Gretchen ist in der LTT-Inszenierung eine selbstbewusste Frau. Foto: Metz Foto: Schwarzwälder Bote

Theater: Faust-Inszenierung im Thalia: In jedem Menschen steckt ein Stück Mephisto

Goethe wünschte sich einst Schauspielbesucher, die die Bereitschaft mitbringen, neue Erfahrungen zu machen, und nicht "verbildet" sind. "Faust – Der Tragödie erster Teil" im Thalia-Theater bot ganz im Sinne des Dichterfürsten auch ungewöhnliche und neue Seiten.

Albstadt-Tailfingen. Mit dem wohl bekanntesten und meistzitierten Werk Johann Wolfgang von Goethes war das Landestheater Tübingen im Thalia zu Gast. Die Geschichte des manisch-depressiven Gelehrten Dr. Heinrich Faust und des Verführers Mephisto bietet viele Interpretationsmöglichkeiten.

Regisseur Christoph Roos stellt bei seiner Inszenierung Margarete, das "Gretchen", in den Mittelpunkt. So ganz anders kommt dieses Gretchen – mit der jungen Mattea Cavic glänzend besetzt – daher, als man es sich vorstellt und es unzählige Male auf der Bühne gesehen hat. Dieses Gretchen ist kein verschüchtertes Ding, auch wenn Dramaturg Lars Helmer in der kurzen Einführung von einem Mädchen spricht, das unter der Kontrolle der gottesfürchtigen Mutter steht und außer Arbeit und Fürsorge nichts vom Leben hat.

Dieses Gretchen ist eine selbstbewusste Frau in kurzem Rock und roten Pumps, mit Zigarette und Weinglas in der Hand. Sie amüsiert sich über die anzüglichen Posen der Nachbarin (Susanne Weckerle). Die, als holde Maid gepriesen, scheint den Freuden des Lebens durchaus etwas abgewinnen zu können.

Unerwartet kommt die Gretchenfrage daher: "Sag, wie hast Du’s mit der Religion?" Diese Margarete überzeugt als singende Verliebte genauso wie im großen Schlussakt, als sie den Verstand zu verlieren scheint. Doch letztlich weiß sie, dass es für sie besser ist, vor Gottes Gericht Verantwortung für ihre mörderischen Taten zu übernehmen, als sich von Faust retten zu lassen: "Heinrich, mir graut vor Dir!"

Faust und Mephisto vollziehen mit Einnahme der Verjüngungsdroge einen Körpertausch: Der zuvor jugendliche Mephisto (Jürgen Herold) wird zum jungen Faust, der Faust der ersten Szenen (Andreas Guglielmetti) verwandelt sich in den älteren Mephisto. Klar wird dadurch: Unschuldig ist in dieser Geschichte keiner, weder Faust, noch Margarete oder die Nachbarin, auch nicht der unversöhnliche Bruder Gretchens.

Die Egozentrik Mephistos

Mephistos Begierden, seine Egozentrik finden sich in unterschiedlicher Prägung in jedem der Protagonisten wieder. Die Verantwortung für böse Taten allerdings wird anderen zugeschoben, Ausreden werden gefunden. Getrieben werden alle von Gier nach noch mehr – genau wie der Mensch des 21. Jahrhunderts.

Mit der modernen Denkweise vergleichbar ist auch der blanke Zynismus, der die Inszenierung durchzieht; selten wurde das bekannte Zitat "Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!" mit so viel Verachtung von der Bühne geschleudert.

Überflüssig erschienen die kleinen Texteinwürfe, die wohl an die zahlreichen Oberstufenschüler gerichtet waren: "#Me-phisto" zum Beispiel oder der Hinweis desselben, dass er keinen Rotwein trinke: "Low Carb".

Schade auch, dass einige Szenen weggefallen waren – unter anderem der Prolog im Himmel fiel der Regie zum Opfer. Wer bei der eingangs erwähnten Einführung durch den Dramaturgen noch nicht im Theater war und den Stoff nicht kannte, konnte Gretchens Wandlung von der Verliebten zur Wahnsinnigen aufgrund der fehlenden Szenen schwer nachvollziehen. Auf der anderen Seite machte es das eindrücklich spielende Ensemble wieder wett, und auch Kostüme, Bühnengestaltung und vor allem die Musik verliehen der Aufführung eine positive Note.