Ein Kämpfer der Taliban: Schon seit Jahren im Vormarsch. Foto: imago stock&people/imago stock&people

Erst Hoffnung bei Millionen von Afghanen, gerade bei Frauen und jungen Menschen, wecken, dann zerstören: Die westliche Afghanistanpolitik war 20 Jahre lang ohne strategisches Ziel. Ein Desaster, kommentiert Franz Feyder.

Stuttgart - Nein, ein strategisches Ziel haben Politiker in den USA, den Mitgliedsstaaten der Nato und erst recht in Deutschland nicht dafür formuliert, was ihre Soldaten in Afghanistan denn überhaupt erreichen sollten.

Weder das US-Motiv der Rache nach den Anschlägen vom 11. September 2001 noch die vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) versicherte „uneingeschränkte Solidarität“ sind strategische Ziele. Die Frage, was der Westen in Afghanistan will, wurde 20 Jahre lang nicht einmal gestellt. Stattdessen: Das Militär sollte irgendetwas richten, freilich ohne zu kämpfen, nachdem die Kämpfer der Terrorgruppe al-Qaida 2002 auf den ersten Blick verjagt schienen. Schöngeredet wurden die Drogenwirtschaft Afghanistans, die zunehmende Dominanz der Taliban in den Provinzen, fast tägliche Bombenanschläge und Terrorangriffe, der gescheiterter Staatsaufbau inklusive desolater Sicherheitskräfte. Probleme, die vielleicht erkannt, nie aber gelöst wurden.

Heute, 35 getötete deutsche, 2354 tote US-Soldaten später, reibt man sich im Westen verwundert die Augen. Politik und Gesellschaft begreifen gerade, was Analysten schon seit drei, vier Jahren penibel dokumentieren: Die Radikalen übernehmen das Land – eben nicht erst in diesen Tagen. Nicht erst in den Momenten, wo die Bilder zottelbärtiger, US-Militär-Jeeps fahrender und moderne Sturmgewehre schwenkender Gotteskrieger in Wohnzimmer und Büros der ganzen Welt übertragen werden.

Korrupte Cliquen, deren Macht am Stadtrand Kabuls endet

Die Schuld für das Desaster ist am wenigsten den Afghanen anzulasten. Sie haben weder 2001 die Internationale Gemeinschaft gebeten, ins Land zu kommen, um die Taliban zu vertreiben. Noch haben sie sie 2021 gebeten, das Land zu verlassen. Ohne Zweifel ist Afghanistans Regierung seit zwei Jahrzehnten höchst unfähig – aber das ist vor allem das Ergebnis eben dieser verfehlten Afghanistan-Politik: Sie unterstützte die beiden afghanischen Präsidenten Hamid Karzai und Aschraf Ghani Ahmadsai seit 2002. Und damit höchst korrupte Cliquen, deren Macht nie über die Stadtgrenzen der Hauptstadt Kabul hinaus ging.

Deutschland bot sich den USA 2001 als treuer Alliierter an, wollte aber im Kern mit der Bundeswehr nur die medienwirksame Pausenaufsicht in den Mädchenschulen Nordafghanistans übernehmen. Selbst als in Kunduz die deutschen Patrouillen beschossen wurden, eine Bombe das Konsulat zerriß, deutsche Soldaten in den Hinterhalten der Taliban starben, rüstete man die Truppe nicht etwa besser aus, verstärkte sie gar, änderte ihren Auftrag in einen sehrrobusten, sondern sprach in Berlin immer noch von einem „kriegsähnlichen Einsatz“.

Schande, gänzlich versagt zu haben

Der Gipfel der Lächerlichkeit in diesen Tagen: Die Europäische Union droht den Taliban jetzt mit Isolation. Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) warnt die Taliban vor der Errichtung eines Gottesstaates. Wenn das Echo der sich ob solcher Phrasen vor Vergnügen auf die Schenkel schlagenden Taliban verhallt ist, finden Politiker in Deutschland, EU und der Nato hoffentlich die Zeit, um die Frage beantworten, ob sie den Einsatz in Afghanistan auch ohne die USA hätten alleine weiterführen müssen. Sicher ein Kraftakt für eine Bundeswehr, die – auch in den letzten 16 Jahren der Regierung Angela Merkels (CDU) – kaputtgespart wurde.

Aber die Millionen Afghanen, gerade die Frauen und Jugendlichen, bei denen die Internationale Gemeinschaft 20 Jahre lang Hoffnung geweckt und jetzt endgültig zerstört hat, jeder und jede Einzelne von ihnen wäre es wert gewesen, sie zu verteidigen. Deshalb werden vor allem die Politiker im Westen die Frage beantworten müssen, wie sie damit leben wollen, gänzlich versagt zu haben.