Ein Chinook-Hubschrauber der US-Armee am Sonntag über Kabul. Mit dem Helikopter wurden Botschaftsangehörige zum Flughafen der afghanischen Hauptstadt geflogen. Foto: dpa//Rahmat Gul

Von Angela Merkel über Heiko Maas bis zu den Vorsitzenden der meisten deutschen Parteien: Alle beschwören seit Jahren eine starke Außenpolitik von Berlin und Brüssel. An der humanitären wie moralischen Katastrophe in Afghanistan aber sollen jetzt nur die USA und Afghanen schuld sein. Scheinheiliger geht es nicht, kommentiert Franz Feyder.

Stuttgart - Erinnern Sie sich noch an die Jahre 2017 und 2018? Als Donald Trump Präsident in den USA war und sich die Politiker in Europa schworen, mehr Verantwortung für den Frieden in der Welt zu übernehmen? „Angesichts der Entwicklungen in den USA müssen die EU-Staaten lernen, in Zukunft mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen“, appellierte Angela Merkel (CDU) im Januar 2017 – und in Deutschland überschlugen sich die Vorsitzenden der Parteien, die Kanzlerin in dieser Forderung zu überbieten.

Während es in Afghanistan allenfalls eine Frage von Tagen ist, dass die Taliban ihren Gottesstaat ausrufen, tönen die Appelle von einst nach der Entscheidung der USA, ihre Truppen vom Hindukusch abzuziehen, leiser an: „Das hat bedeutet, dass alle anderen Nato-Streitkräfte auch das Land verlassen müssen, weil ohne die amerikanischen Fähigkeiten kann keiner alleine dort seine Soldatinnen und Soldaten sicher hinschicken“, sagt Ausminister Heiko Maas (SPD). Also der Mann, der im Oktober 2018 die Krisenreaktionsfähigkeit der EU erhöhen, hochmobile Aufklärungseinheiten schaffen, die europäische Sicherheit und den „europäischen Pfeiler“ der Nato stärken wollte.

Welche Fähigkeiten haben die USA , die es den Europäern unmöglich machten, ohne diesen Partner in Afghanistan zu bleiben? Zum einen strategische Aufklärungsfähigkeiten mit Satelliten und Drohnen und zum anderen die Fähigkeit, Truppen und Ausrüstung über Kontinente hinweg zu verlegen.

Die Bundesregierung wird erklären müssen, warum sie nicht darauf drängte, die politische wie moralische Katastrophe in Afghanistan zu verhindern. Indem sie an der Spitze der EU Verantwortung übernahm, indem Deutschland und die EU mit den USA darüber verhandelten, dass diese ihre benötigten Fähigkeiten einer europäischen Afghanistan-Operation beisteuerten.

Die Bundeswehr sei nicht für solche Einsätze ausgerüstet, melden sich vor allem CDU und SPD dieser Tage zu Wort. Da bleibt nur zu fragen: Ja bitte, wer hat denn die vergangenen Jahre dieses Land regiert? Seit 2005 die CDU, die SPD seit 2013! Wer anders hätte denn in dieser Zeit die Bundeswehr so ausstatten können und sollen, dass sie Einsätze wie den in Afghanistan auch bewältigen kann?

Um die Kritik zu vervollständigen: Wer jetzt wie die Grünen fordert, es dürfe keine Fortführung der Politik des „Einfach-Weiter-so“ geben, dafür mehr Verlässlichkeit, der muss auch darüber nachdenken, ob es richtig ist, selbst die Kreide in afghanischen Schulen und die Kekse der Sozialarbeiter in die Verteidigungsausgaben Deutschlands einzurechnen. Nur um so einen möglichst geringen militärischen und möglichst hohen zivilen Anteil an jenen zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu erreichen, die jedes Nato-Mitglied für Verteidigung ausgeben soll. Klar ist: Viele Schulen in Afghanistan werden gerade für Mädchen geschlossen, die Sozialarbeiter fliehen – weil auch die Bundeswehr nicht mehr am Hindukusch ist.

Das alles bedeutet: Alle deutschen Parteien tun bestens daran, sich zurückzuhalten bei der Suche nach Schuldigen für die Katastrophe, die der Westen gerade in Afghanistan zurücklässt. Weder die USA und erst recht nicht Afghanistan sind alleine dafür verantwortlich, was gerade in Kabul passiert. Und was noch passieren wird, wenn die Taliban erst einmal unbeobachtet und ungeniert von der Leine sind. Daran haben Deutschland und die Europäische Union erheblichen Anteil. Zumal sie – wieder mal – behaupten, von den Entwicklungen vollkommen überrascht worden zu sein. Vor Schuldzuweisungen müssen Bundesregierung und Opposition in diesen Tagen erst einmal nach Gründen für das eigene Totalversagen suchen.