Über Kabul steigt nach den Explosionen Rauch auf. Foto: dpa/Wali Sabawoon

Der mutmaßliche Selbstmordanschlag am Flughafen Kabul beweist, wie gefährlich die letzten Stunden und Tage der Evakuierungsoperation aus Afghanistan sind. Die Bundeswehr wird nun keine eigenen Rettungsflüge mehr durchführen.

Berlin - Der zweite Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan hat schon am Donnerstag begonnen. Die beiden Hubschrauber vom Typ H145M, mit denen deutsche Staatsangehörige sowie frühere Ortskräfte des Militärs und von Entwicklungsorganisation aus ihren Verstecken in Kabuls Innenstadt abgeholt und zum Flughafen gebracht werden sollten, sind schon wieder verladen und in die usbekische Hauptstadt Taschkent verfrachtet worden. Die neunsitzigen Helikopter waren auch gar nicht zum Einsatz gekommen. Eine Reihe von Operationen führte das deutsche Kommando Spezialkräfte mit amerikanischen Maschinen aus, ein dann doch geplanter Einsatz war in der Nacht zu Donnerstag aufgrund von Sicherheitsbedenken kurzfristig wieder abgeblasen worden.

 

Die Gefahrenlage hat sich kurz vor dem nun absehbaren Ende des Einsatzes tatsächlich dramatisch verschärft. „Wir befinden uns jetzt in der sicherlich hektischsten, gefährlichsten und sensibelsten Phase“, hatte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) am Donnerstagmittag vor Journalisten in Berlin gesagt. „Wir wissen, dass die Terrordrohungen sich massiv verschärft haben und deutlich konkreter geworden sind.“ Am späten Nachmittag gab es die schreckliche Gewissheit, dass es sich nicht um Fehlinformationen handelte. Am Abbey Gate des Flughafens kam es zu einer Explosion, die einem Pentagon-Sprecher zufolge eine „noch unbekannte Zahl von Opfern“ zur Folge hatte.

Es gab zuletzt zwölf ernst zu nehmende Hinweise auf Selbstmordattentäter

Die Geheimdienste der westlichen Staatengemeinschaft hatten zuletzt insgesamt zwölf ernst zu nehmende Hinweise darauf erhalten, dass sich Selbstmordattentäter unter die Menschenmenge vor den Flughafentoren schmuggeln könnten, um dort einen Anschlag zu verüben. Daher hatte das Auswärtige Amt in der Nacht zu Donnerstag die noch in Kabul Ausharrenden kontaktiert und ersucht, sich „nicht auf eigene Faust zum Flughafen“ durchzuschlagen, wie Kramp-Karrenbauer sagte. Ob sich jemand auf den Evakuierungslisten der Bundesregierung dennoch auf den Weg und damit zum möglichen Attentatsopfer machte, war am Donnerstagabend noch unklar.

Das Tor zur Welt schließt sich für die Menschen, die vor dem neuen Taliban-Regime fliehen wollen, aber nicht nur wegen des nun ganz real gewordenen Terrors. Unabhängig davon haben die Amerikaner kein Interesse daran, den Flughafen mit Militärgewalt über den 31. August hinaus offen zu halten. Das ist das Datum, das auf ein Abkommen zwischen der US-Administration von Donald Trump und den Taliban zurückgeht – dieser hatte einen vollständigen Truppenabzug bis 1. Mai dieses Jahres zugesichert, sein Nachfolger Joe Biden hatte diese Frist um vier Monate verlängert.

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Nun planen die Amerikaner, die die Evakuierungsoperation leiten und den Löwenanteil der Soldaten und der Ausrüstung stellen, rückwirkend von diesem Datum den Rückzug. Sie wollen am letzten Tag nicht noch die Sicherheit anderer Streitkräfte gewährleisten müssen, sondern als einzige Nation auf dem Airport vertreten sein und ihn an die Taliban übergeben. Das bedeutet, dass sie auch der Bundeswehr letzte „Slots“ zuteilten für finale Evakuierungsflüge und schließlich den Abflug ihrer Soldaten.

Mehrere Länder haben die Einsätze abgebrochen

Am Donnerstag wurde somit endgültig klar, dass die letzten Stunden des Rettungseinsatzes der Bundeswehr eingeläutet sind. Man versuche „nach wie vor fieberhaft“, Menschen Schutz zu gewähren, die wegen ihrer Kooperation mit dem Westen die Rache der islamistischen Gotteskrieger fürchten müssen, sagte die Verteidigungsministerin. Allerdings habe ihr Brigadegeneral Jens Arlt, der die deutsche Mission vor Ort in Kabul leitet, kurz zuvor direkt „berichtet, dass eine ganze Reihe europäischer Nationen ihre Flagge eingeholt haben beziehungsweise das auch tun werden“.

Drei Flüge der Airbus-Transportmaschinen aus Kabul heraus sind, Stand Donnerstagmittag, vonseiten der Bundeswehr dem Vernehmen nach noch geplant gewesen. Wann sie genau würden abheben können, galt bereits als unsicher, als es noch gar nicht zu dem mutmaßlichen Anschlag gekommen war. Neben der Sicherheitslage hingen die Abflugzeiten auch von den Zeitfenstern ab, die ihnen die US-Kollegen zuweisen.

Das Attentat hat unmittelbar zu einer neuen Einschätzung der Lage geführt

Das Attentat hat jedoch unmittelbar zu einer neuen Lageeinschätzung geführt. Wie aus dem Verteidigungsministerium am späten Nachmittag bestätigt wurde, hob die letzte deutsche A400M unmittelbar vor oder nach der Explosion vom Airport Kabul ab. In diesem Zusammenhang fiel auch die Entscheidung, dass dieser Transport der letzte Evakuierungsflug der Bundeswehr gewesen ist, wie unserer Zeitung berichtet wurde. Ob die Maschinen zum Abholen der Bundeswehrsoldaten zurückkehren oder diese mit US-Transportern das Land verlassen, blieb allerdings offen. Rund 5200 Personen aus insgesamt 45 Nationen hat die Bundeswehr nach Angaben ihres Generalinspekteurs Eberhard Zorn bis Donnerstagmittag aus Kabul herausholen können. Darunter befanden sich ihm zufolge 505 deutsche Staatsangehörige sowie 4200 Afghaninnen und Afghanen.

Mit dem Ende der deutschen Evakuierungsoperation soll eine Vereinbarung mit der amerikanischen Seite greifen, wonach deutsche Staatsangehörige oder deutsche Ortskräfte, die es auch jetzt noch zum Flughafen schaffen, von den verbliebenen US-Transportmaschinen mitgenommen werden können. Außerdem hat nach Angaben von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer Phase 2 begonnen, die „vornehmlich diplomatischer Natur“ ist und auch nach dem Truppenabzug die Ausreise bedrohter Afghanen über den allerdings stark beschädigten zivilen Teil des Flughafens von Kabul ermöglichen soll.