Mehr als eine Affäre: Artistik-Duo Mirko Köckenberger und Marie Bitaróczky Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Bereits 2008 überzeugte das Friedrichsbau Varieté mit einem Burlesque-Programm. Nun ist man erneut lasziv in die neue Saison gestartet. Regisseur Ralph Sun hat mit „Affairs“ einen hervorragenden Auftakt inszeniert.

Stuttgart - Burlesque ist eine Kunstform, die zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts auch deshalb reüssierte, weil es, banal formuliert, was zu gucken gab. Später etablierten sich weitere Möglichkeiten des Guckens. Burlesque war passé. Dank Internet guckt der Gucker von heute allerorts und jederzeit. Doch seit den 1990er Jahren erlebt das Genre eine kleine Renaissance. Man spricht von Neo-Burlesque oder New Burlesque. Dita von Teeseist eine bekannte Vertreterin. Stuttgarter Fans gibt’s en masse: Im Oktober veranstaltet man hier ein dreitägiges Festival um die Kunst des sinnlichen Entblätterns. Nachdem das Friedrichsbau Varieté bereits in der Spielzeit 2008/09 mit Burlesque-Shows begeisterte, startete man am Freitag mit der Eigenproduktion „Affairs“ in die neue Saison.

Freilich steht Burlesque für weitaus mehr als unverhüllte Epidermis. Regisseur Ralph Sunwill „die vielen Facetten zwischenmenschlicher Beziehungen auf andere Weise ausloten und die Grenzen unserer Vorstellungskraft öffnen.“ Gut. Gelungen ist ihm zumindest ein hervorragender Auftakt.

Während man sich bei älteren Programmen ab und an über umständlich miteinander verwobene, langatmige Einlagen ärgerte, überzeugt „Affairs“ mit ausgefeilter Dramaturgie. Und einem Conférencier, der sich selbst nicht zu wichtig nimmt: Ferkel Johnson, hoffentlich ein Künstlername, labert nicht lange rum. Und weiß dennoch zu amüsieren: Sein Knie-Theater mit aufgemaltem Schnauzbart auf dem rechten und roten Lippen auf dem linken Knie ist zum Niederknien. Beide Gelenke nähern sich einander auf romantische Art und Weise, eines becirct das andere sogar mit der Ukulele.

Auf der ganzen Welt begehrt: das Artistik-Duo Les Dudes

Die in Paris lebende Australierin Vivi Valentine wartet mit einem Burlesque-Klassiker auf: Beim Fächertanz bedient sie sich schwarzer Schwingen, die sie mit pfauengleicher Eleganz führt. Ebenfalls sehr ansehnlich bewegt sich Miss Skopalova. Textilarm bringt sie mit ihrem mexikanischen Muskelprotzkollegen Bray Buenrostro die laszivste, zugleich aber auch eine akrobatisch anspruchsvolle Nummer auf die Bühne. Ein Kettenende umschließt Skopalovas Hüften, das andere mündet in Buenrostros Halsband. Letzter gibt sich der Wahnsinnsfrau servil hin. Sie räkelt sich herrisch auf seinem Rücken, schlingt ihm die Beine um den Kopf, steht auf seinen Schultern. Einige Gäste müssen da zum Wasserglas greifen.

Das Schlückchen sollte die Speiseröhre passiert haben, bevor das Comedy-Artistik-Duo Les Dudes auftritt – sonst spuckt man’s vor Lachen eventuell wieder aus. Die beiden sind eine Wucht und völlig zu Recht auf der ganzen Welt begehrt. Vollbartträger Francis Gadbois steht beispielsweise völlig locker auf dem Sattel eines im Kreis fahrenden Kunstrads und wirft Philippe Dreyfuss die Jonglierkeulen zu. Mal tauscht er die Keulen gegen Messer und begibt sich auf Dreyfuss‘ Schultern, der dabei auch noch Einrad fährt. Wenn sich diese konzertierte Artistik schließlich mit Slapstick mischt, erheitern Les Dudes den ganzen Saal. Ob mit Tennisball und Schläger oder Eiern und Pfanne – herrlich komisch, wenn solche Könner inmitten schwieriger Darbietungen blödeln, sich Utensilien nicht in die Hände, sondern ganz bewusst aneinander vorbeiwerfen. Später parodiert Gadbois im grünen Kleid auch noch das Gehabe dauergrinsender Show-Girls. Dieses Gespann ist ein Superargument für die Varietékunst, auch wenn es das Themenfeld „Burlesque“ nur tangiert.

Jo-Jo – eine Spielart der Bondage?

Das gilt auch für den Japaner Naoto, den „King of YoYo“. Irre, was der zweifache Jo-Jo-Weltmeister mit der Schnur anstellt. Die Verbindung seines Auftritts zum Motto des Abends liefert Ferkel Johnson: „Wenn ich das machen würde, wäre es Bondage“. Die Fesselspiele sind ja auch eine Spielart der Burlesque.

Dem Titel „Affairs“ wiederum gerecht werden Mirko Köckenberger und Marie Bitaróczky. Wobei die beiden mehr als eine Affäre haben. Sie sind nicht nur auf der Bühne ein Paar. Was die Hand-auf-Hand-Akrobaten vorführen, scheint noch währenddessen unmöglich: Marie biegt sich nach hinten zur Brücke, Mirko geht auf ihren emporgestreckten Hüften in den Handstand. Und verharrt. Sie trägt ihn, später er sie. Wie man sich die Partnerschaft halt so wünscht. Man kann allerdings auch ohne einander: Bei Köckenbergers Solo-Auftritt karrt er mehrere Koffer auf die Bühne, um sich umzuziehen. Er schlüpft indes nicht schläfrig aus den Hosenbeinen wie unsereins. Ein Equilibrist braucht’s fordernder, stellt das Gepäck aufeinander, balanciert einarmig darauf und zieht mit der freien Hand die Klamotten hervor.

Falls Sie auf die Fundstücke der obligatorischen Suche nach dem Haar in der Suppe warten: Da kommt nichts. Ralph Sun hat ein starkes Varieté-Stück mit großartigen Künstlern inszeniert: Kurzweilig, witzig und staunenswert. Auf „Affairs“ lässt man sich gerne ein. Die Latte für die kommende Spielzeit liegt hoch.

Termine: Mittwochs bis samstags, bis zum 29. Oktober