Claudia Pechstein erlebte ihre ersten Winterspiele vor 30 Jahren in Albertville, in Peking wird sie zum achten Mal bei Olympia starten – und hat einen ganz großen Wunsch.
Stuttgart - Am 24. Februar 2018 stand Claudia Pechstein im Eisschnelllauf-Stadion von Gangneung und sprach über Platz 13, auf dem sie im Massenstart ins Ziel gekommen war. Die Berlinerin war enttäuscht, dass es nichts geworden war mit der zehnten Olympiamedaille. Sie hatte in Korea in der Teamverfolgung Platz sechs belegt, über 3000 Meter wurde sie Neunte und auf ihrer Paradestrecke über 5000 Meter Achte. Womöglich vermuteten manche Reporter jetzt, da sie zwei Tage zuvor 46 geworden war, werde sie vielleicht übers Ende ihrer Karriere sinnieren. Tat sie nicht. „Ich mache weiter und hoffe auf meine Chance in vier Jahren in Peking, wenn ich dann noch lebe und mich qualifizieren kann, will ich dabei sein“, betonte sie.
1992 holte Pechstein Olympia-Bronze
Alle Voraussetzungen erfüllt. Pechstein ist am Leben, sie hat sich für die Winterspiele qualifiziert, also wird sie am 19. Februar im Massenstart an der Linie stehen. Drei Tage später wird sie 50. Es sind ihre achten Spiele, sie ist die erste Frau, die so viele Teilnahmen vorweisen kann, Skispringer Noriaki Kasai (49) aus Japan hat diese Marke als einziger Mann erreicht. „Ich habe mir 1992 keine Gedanken gemacht, was in 30 Jahren sein könnte“, erzählt Pechstein, die sich bei der Olympia-Premiere in Albertville Bronze über 5000 Meter geschnappt hat, „aber ich habe 2018 daran geglaubt, dass ich das schaffen kann.“
Lesen Sie aus unserem Angebot: So lief Pechstein bei den deutschen Meisterschaften
Ihre Konkurrentinnen von einst sind am Oval nur noch als Zuschauerinnen oder Trainerinnen anwesend, Pechstein ist die Konstante auf der Bahn. Sie ist für ihre Gegnerinnen diejenige, die zum Weltcup gehört wie der Startschuss, weil viele nicht geboren waren, als die Deutsche in Albertville die Kufen ins Eis presste. Diese Läuferinnen würden immer wieder, verrät Pechstein, „mir ihren großen Respekt vor meiner Lebensleistung entgegenbringen. Das geht schon runter wie Öl.“ Aber die Grande Dame ist nicht mehr der sportliche Maßstab, 2022 zählt sie nicht mehr zu den Frauen, deren Name genannt wird, wenn über Medaillen diskutiert wird. Fünf goldene und je zwei silberne und bronzene besitzt sie, die Olympiasammlung sei komplett, sagt sie, und sie habe sich damit abgefunden, dass es keine Nummer zehn geben wird. „Ich bin realistisch“, sagt sie, „aber Leistung will ich schon noch zeigen.“
Lesen Sie aus unserem Angebot: Das sagt Pechstein über ihre Karriere
Es sind keine sportlichen Auszeichnungen, die Pechstein jagt wie eine Konkurrentin – sie will in China geschichtsträchtige Meilensteine setzen. Die achte Teilnahme ist das eine, und das andere, nicht minder begehrte Ziel ist die Hoffnung, bei der Eröffnungsfeier mit der deutschen Fahne einzumarschieren. „Ich würde mich riesig freuen, wenn ich die Fahne für Deutschland tragen könnte“, sagt die 49-Jährige, „es wäre der i-Punkt der Karriere.“ Doch die Sportler, ein Mann und eine Frau, werden nicht wie bis 2014 von der Delegationsleitung bestimmt, es wird seit 2016 gewählt, wem die Ehre zuteil wird. Dabei werden die Stimmen der deutschen Olympia-Starter und die der Fans im Internet zu je 50 Prozent gewertet – Pechstein tritt gegen Natalie Geisenberger (Rodeln) und Ramona Hofmeister (Snowboard) an. „Ich stand bei zwei Spielen in der engeren Auswahl“, berichtet Pechstein, „nun ist es eine Wahl, und der Ausgang liegt nicht in meiner Macht.“ Der Zuschlag ist unsicher, trotz der achten Teilnahme. In den USA wäre sie wahrscheinlich gesetzt, doch für nicht wenige deutsche Fans stand ihr Name lange auf dem Index, oder er tut es noch.
Rechtsstreit um überhöhte Blutwerte
2009 wurden bei Blutproben überhöhte Werte festgestellt, die Berlinerin wurde aufgrund von Indizien von der Internationalen Eislauf-Union (ISU) als Dopingtäterin zwei Jahre gesperrt. Erst stürzte sie in einen Abgrund, stand kurz vor dem Suizid, die „Abschieds-SMS war schon geschrieben“, berichtete „Bild“, sie verpasste die Spiele 2010 in Vancouver, wo sie Medaillenfavoritin gewesen gewesen wäre, dann setzte sie sich vehement gegen das gefühlte Unrecht zur Wehr, so dass sie bald so häufig vor Gericht stand wie auf dem Eis. Sie prägte das martialische Motto „Siegen oder sterben“, die Beharrlichkeit und Verbissenheit, mit der sie kämpfte, imponierte nicht allen, sie eckte an, machte sich Feinde, wurde abseits der Bahn hart angegangen, doch für sie gab es keine Alternative, alle juristischen Mittel auszuschöpfen. Entweder war man für sie oder gegen sie.
Lesen Sie aus unserem Angebot: Die Turbulenzen im deutschen Verband
„Mir wurden zwei Jahre des Lebens genommen“, erzählt die fünfmalige Olympiasiegerin, „da muss man was tun und kann nicht abwarten.“ Schließlich wurde eine vererbte Blutanomalie nachgewiesen, 2015 wurde sie vom Deutschen Olympischen Sportbund vollständig rehabilitiert. Dennoch stritt Pechstein weiter, im Kampf um Schadenersatz zog sie bis zum Bundesgerichtshof und vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. „Ich habe niemals etwas Verbotenes getan“, betont sie, „aber ich weiß, dass ich trotz meiner Rehabilitierung einen Stempel auf der Stirn trage.“ Die Zeit heilt nicht alle Wunden – diese wird Claudia Pechstein für immer schmerzen.
Am 19. Februar wird sie in der Eisschnelllauf-Halle im Norden Pekings im Massenstart antreten. Was geschieht, wenn sie danach in der Mixed Zone auftaucht, weiß die ewige Eisschnellläuferin selbst noch nicht: „Meine Gedanken reichen nur bis zum Rennen, alles andere beantworte ich danach.“