Blick in das Herzstück des Large Hadron Colliders: Das Hightech-Wunder ist ein Labor für die ganze Welt, das die großen Fragen des Kosmos beantworten will: Woher kommt das Universum? Woraus besteht es? Was hält es zusammen? Wie geht es weiter? Foto: Imago/Dreamstime

Es sind die größten Fragen der Menschheit: Warum gibt es uns und unsere Welt? Was war vor dem Urknall? Wie wird sich das Universum entwickeln? Seit sieben Jahrzehnten suchen Wissenschaftler am Europäischen Kernforschungszentrum Cern nach Antworten.

Es sind diese Superlative, die Forscher-Herzen schneller schlagen lassen: Der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger, die größte und komplexeste Maschine der Welt – und die coolste. Auf 1,9 Kelvin – minus 271,25 Grad Celsius – ist der LHC, der L arge Hadron Collider ( auf deutsch: Großer Hadronen-Speicherring), nahe Genf schon heruntergekühlt worden.

 

Das war nötig, um Elementarteilchen mit der Energie von 14 TeV (Teraelektronenvolt) aufeinander losrasen zu können. Aus diesen Kollisionen können dann weitere Elementarteilchen wie das berühmte Higgs-Boson entstehen.

Das Herzstück der gigantischen LHC-Anlage ist der Ringbeschleuniger – ein sogenannter Synchrotron – in einem 26,7 Kilometer langen unterirdischen Ringtunnel. Foto: Imago/Dreamstime

1954: Cern wird aus der Taufe gehoben

Am 29. September 1954 ging für Physiker in aller Welt mit der Inbetriebnahme des ersten Teilchenbeschleunigers am Cern ein Traum in Erfüllung. An diesem Tag trat der Staatsvertrag für das Europäische Kernforschungszentrum in Kraft, zu dem auch der LHC gehört. Drei Jahre später ging der Synchrocyclotron (SC) als erster Teilchenbeschleuniger in Betrieb, der bis zum Jahr 1990 aktiv war.

Was hat die Kernforschung am Cern für die Menschheit nicht schon alles gebracht: Internet, Touch Screen, medizinische Bildgebung. Eine kleine Auswahl von Errungenschaften, die durch das Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire (Europäische Organisation für Kernforschung), abgekürzt Cern, möglich geworden sind.

Die Organisation will als europäische Physik-Kollaboration fundamentale Fragen der Physik zur Natur von Materie und Energie ergründen. Mittlerweile sind 22 Staaten beteiligt. Das Jahresbudget der Forschungsstätte belief sich 2023 auf rund 1,23 Milliarden Schweizer Franken (1,27 Milliarden Euro). Am 1. Oktober wird der 70. Gründungstag des Cern offiziell gefeiert.

Cern, Peter Higgs und das Gottesteilchen

Der bedeutendste Erfolg war im Jahr 2012 der Nachweis des Higgs-Boson s, des „Gottesteilchens“. Seine Existenz hatten knapp ein halbes Jahrhundert zuvor der Brite Peter Higgs und der Belgier François Englert vorausgesagt. Nachdem ihre Theorie am Cern bewiesen werden konnte, wurden Higgs und Englert am 8. Oktober 2013 für ihre Erforschung des Higgs-Mechanismus der Nobelpreis für Physik zuerkannt.

The God Particle – das Gottes-Teilchen – nannte der amerikanische Physik-Nobelpreisträger Leon Ledermann jene geheimnisvollen Teilchen, die sein Kollege Higgs im Jahr 1964 erstmals beschrieben hatte.

Im Ringtunnel werden Protonen oder Blei-Kerne gegenläufig auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und zur Kollision gebracht werden. Foto: Imago/Depositphotos

Labor für die Welt und die größten Fragen des Kosmos

29 Elementarteilchen kennt das seit 50 Jahren gültige Standardmodell der Physik. Mit ihm erklären die Forscher, wie der Kosmos entstanden ist, was ihn im Innersten zusammenhält und welche Kräfte in ihm wirken.

Dieser winzige Baustein, das Higgs-Boson, ist eine Antwort auf die Fragen, die sich Physiker seit Jahrhunderten stellen: Warum hat Materie überhaupt eine Masse? Was macht Blei, Eisen oder Kupfer so schwer und andere Stoffe wie Luft dagegen so leicht? Das Higgs-Teilchen ist dafür verantwortlich, dass Atome, Planeten oder Menschen ihr Gewicht erhalten.

Der „Vater“ des Higgs-Teilchens, der britische Physik-Nobelpreisträger Peter Higgs, war am 9. April 2024 im Alter von 94 Jahren gestorben. Foto: Imago/Zuma Press

Was kommt nach den Higgs-Teilchen?

Wie jeder Erfolg in der Teilchenphysik war auch die Higgs-Entdeckung Auslöser für weitere, noch umfangreichere Forschungen am Cern. Mehr als 10.000 Wissenschaftler sind für das Cern aktiv – einige Tausend vor Cern-Standort in Meyrin bei Genf, andere an Computern ihrer Heimatinstitute von Amerika bis Japan.

Durch diese internationale Vernetzung ist das Cern ein Labor für die ganze Welt, das die großen Fragen des Kosmos beantworten will. Das Hightech-Wunder soll helfen, die letzten Fragen der Physik zu beantworten: Woher kommt das Universum? Woraus besteht es? Was hält es zusammen? Wie geht es weiter?

Teilchen-Kollision im LHC, wie die Physiker des Cern es auf ihren Computern sehen. Foto: Imago/Depositphotos

Physikalische Suche nach dem Elementarsten

Beim Cern geht es um wahrhaft Elementares: Die Wissenschaftler wollen mit Hilfe der physikalischen Crash-Tests Elementarteilchen und Materiezustände untersuchen. Ausgangspunkt ist dabei das gegenwärtigen Standardmodells der Teilchenphysik.

Dieses hochkomplexe mathematische Modell fasst die zentralen Erkenntnisse der Teilchenphysik zusammen und beschreibt alle bekannten Elementarteilchen und Wechselwirkungen zwischen ihnen. So will man neue Antworten auf offene Fragen finden.

LHC: Die größte Maschine der Menschheit

Rund vier Jahrzehnte ist es her, da tauchte erstmals die Idee des Large Hadron Collider auf. Die damaligen Beschleuniger stießen an ihre Grenzen. 1985 begannen Schweizer Ingenieure mit dem Bau des Tunnels, den sie drei Jahre später fertigstellten. Danach ging der Large Electron Positron Collider (LEP) an den Start, der 2000 abgeschaltet wurde.

Bis zu 150 Meter tief, im Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Frankreich, erstreckt sich der kreisrunde LHC-Tunnel vom Genfer See bis zum französischen Jura. Der größte Teilchenbeschleuniger der Welt war 2015 nach einer Generalüberholung und Modernisierung wieder in Betrieb gegangen.

Bei Zusammenstößen der Protonen entstehen Regen von Folgeteilchen. Foto: Imago/Dreamstime

Inszenierung des Urknalls

Was Physiker, Ingenieure und Techniker in dieser Riesenröhre veranstalten, ist nichts anderes, als die Inszenierung des Urknalls. Im LHC-Vakuum, das dem des Weltalls gleicht, werden Milliarden von Protonen oder Blei-Ionen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit aufeinander losgejagt.

Bei Zusammenstößen entstehen Regen von Folgeteilchen. Physiker analysieren sie mit vier Detektoren von der Größe mehrstöckiger Häuser. Die Zahl der auswertbaren „Unfallbilder“ wurde mit dem modernisierten LHC von 20 Millionen auf 40 Millionen gesteigert – pro Sekunde.

Physiker analysieren sie mit vier Detektoren von der Größe mehrstöckiger Häuser. Foto: Imago/Dreamstime

26,7 Kilometer langen unterirdischer Ringtunnel

Die Cern-Physiker nennen ihre Schöpfung schlicht „ein Experiment“. Neben Atlas, dem größten der Messgeräte, gibt es noch drei weitere Detektoren: CMS, Alice und LHCb. Sie alle sind Teil dieser größten, jemals gebauten Maschine – des Large Hadron Collider.

Das Herzstück der gigantischen Anlage ist der Ringbeschleuniger – ein sogenannter Synchrotron – in einem 26,7 Kilometer langen unterirdischen Ringtunnel, in dem Protonen oder Blei-Kerne gegenläufig auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und zur Kollision gebracht werden.

Wenn der LHC läuft, registrieren seine Detektoren Spuren der bei den Kollisionen entstandenen Partikel. Der größte der Detektoren, Atlas, ist halb so groß wie die Kathedrale Notre-Dame in Paris und fast so schwer wie der Eiffelturm.

Wenn der LHC läuft, registrieren seine Detektoren Spuren der bei den Kollisionen entstandenen Partikel. Foto: Imago/Pond5 Images

Der Ringtunnel des Synchrocyclotron (kleiner Kreis) und des Large Hadron Collider (großer Kreis). Foto: Imago/Depositphotos

Riesige Maschinen für die kleinsten kosmischen Teilchen

Durch die unvorstellbare große Anzahl von Kollisionen pro Sekunde entstehen gewaltige Datenmengen. Diese werden mit Hilfe von extrem leistungsfähigen Computern ausgewertet.

Die eigentliche Röhre, durch welche die Teilchen schießen, hat einen Durchmesser von knapp vier Metern. Die Protonen kommen aus einer 10-Liter-Wasserstoffflasche. Sie werden in eine Vakuumröhre geschossen und mit Hilfe von elektrischen Feldern und Magneten auf Touren gebracht. Zig Milliarden davon, die Hälfte im Uhrzeigersinn, die andere Hälfte in entgegengesetzter Richtung.

Die Physiker interessiert dabei nur der Bruchteil der Sekunde, an dem die Protonen kollidieren. Entsteht dabei die dunkle Materie, nach der sie suchen? Erklärt das, woraus der Großteil des Universums besteht, der sich nicht aus den bislang vertrauten Bausteinen zusammensetzt?

Um die kleinsten Teilchen im Kosmos zu untersuchen, braucht es diese riesige Maschinen. Sie rekonstruieren die erste Billionstelsekunde nach dem Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren, indem sie enorme Energie auf engstem Raum konzentrieren. Im LHC werden Atomkernteilchen mit annähernder Lichtgeschwindigkeit (exakt 299.792.458 Meter pro Sekunde) gegeneinandergeschleudert.

Physiker planen seit Jahren ein Zukunftsprojekt mit gigantischen Ausmaßen: einen 100 Kilometer langen Ringtunnel. Foto: Imago/Dreamstime

Physiker planen den Super-Collider

Doch bei allen Superlativen steht schon fest, dass auch der modernisierte Ringbeschleuniger an Grenzen stoßen wird. Physiker planen deshalb seit Jahren ein Zukunftsprojekt mit gigantischen Ausmaßen.

Falls ihre Pläne umgesetzt werden, entsteht bei Genf ein 100 Kilometer langer ringförmiger Tunnel – fast vier Mal so lang wie der LHC – teils unter dem Genfer See. In dem Beschleuniger Future-Circular-Collider (FCC) würden ab Ende der 2030er Jahre Elektronen und Positronen auf Kollisionskurs gebracht.

Quantenphysik und Relativitätstheorie

Warum wird all dieser gigantische wissenschaftliche, personelle und finanzielle Aufwand betrieben? Die Antwort ist so simpel wie komplex: Die weltweite Physiker-Gemeinde sucht nach dem einen Weltmodell. Jenem theoretischen Konstrukt, mit dessen Hilfe man die Rätsel des Kosmos entschlüsseln kann.

Die beiden großen physikalischen Theorien des 20. Jahrhunderts, die Quantenphysik und die allgemeine Relativitätstheorie, erklären jede auf ihre Weise die Kräfte, die das Weltall zusammenhalten.

Cern Globe in Meyrin bei Genf. Foto: Imago/Dreamstime

Quantengravitation: Die große Symbiose

Quantengravitation heißt das Zauberwort der modernen Physik – eine Symbiose aus beiden Theorien:

Während Albert Einsteins (1879-1955) Allgemeine Relativitätstheorie sich mit der Gravitation, einer der vier Elementarkräfte des Universums, befasst, beschreibt die Quantentheorie die übrigen drei kosmischen Elementarkräfte: elektromagnetische Wechselwirkung, schwache Wechselwirkung und starke Wechselwirkung. Sie geht vor allem auf die deutschen Physiker Max Planck (1858-1947) und Werner Heisenberg (1901-1976) zurück.

Abstrakte Darstellung einer Quantenwelle: Die moderne Physik beruht auf so genannten Quantenfeldtheorien. Demnach durchziehen wogende Quantenfelder unsere Raumzeit und erzeugen die bekannten Elementarteilchen und Grundkräfte, indem sie miteinander wechselwirken. Foto: Imago/Ingimage

Man könnte es auch so ausdrücken: Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt den Aufbau des Weltalls im Großen und erklärt die Vorgänge bei großen Massen wie Planeten und Beschleunigungen.

Die Quantentheorie wiederum will die Wechselwirkung zwischen den kleinsten Teilchen erklären. Die Probleme bei der Zusammenführung beider Theorien sind so kompliziert und die Lösungen so undenkbar, dass selbst ein Genie wie Einstein vor den geistigen Herausforderungen kapitulieren musste.

Doch so viel ist sicher: Am Cern ist man diesen und anderen großen Rätseln des Universums so dicht auf der Spur wie sonst nirgends auf der Erde (mit dpa-Agenturmaterial).