Vor 70 Jahren, am 29. Mai 1953, standen die ersten Menschen auf dem höchsten Berg der Erde. Viele folgten Edmund Hillary und Tenzing Norgay auf den Mount Everest. Nicht alle überlebten. Heute ist der Traum vom Gipfel käuflich – aber ohne Garantie, denn der Berg bleibt der Boss.
Zentimeterweise kämpften sich die beiden Männer, ein schlaksiger Bienenzüchter aus Neuseeland und sein drahtiger Begleiter vom Bergvolk der Sherpa, am frühen Morgen den eisigen Südgrat hinauf. Sie trugen schwere Stiefel mit Steigeisen, Wollanzüge, Daunenjacken und Schneebrillen und schleppten schwere, stählerne Sauerstofftanks mit sich. „Ich hatte ununterbrochen Stufen geschlagen und fragte mich ziemlich benommen, ob uns genug Kraft bliebe“, berichtete Edmund Hillary später. Dann plötzlich sei da nur noch ein kleiner Schneekegel voraus gewesen, ringsum fiel der Blick in die Tiefe, hinab bis in die Täler von Tibet. „Ein paar Hiebe mit dem Eispickel und einige vorsichtige Schritte, und wir waren auf dem Gipfel“, so Hillary.
Die frisch gekrönte Königin adelte den Erstbesteiger
Es dauerte mehrere Tage, bis die Nachricht von der Erstbesteigung des höchsten Berges in die Welt gelangte. Sie wurde vor allem in Großbritannien bejubelt – war es doch eine britische Expedition, die ein Ausrufezeichen hinter mehr als 100 Jahre Gipfelsturmversuche gesetzt hatte. Der Neuseeländer wurde flugs geadelt von der frisch gekrönten Königin Elisabeth, der Sherpa zum Nationalhelden von Indien, Nepal und Tibet erklärt – wo er und sein Volk zu Hause sind.
Damit führen Edmund Hillary und Tenzing Norgay die amtliche „Full List of Mount Everest Climbers“, also aller Everest-Besteiger, an. Stand Januar 2023 listet sie 6338 Gipfelstürmer auf. Auch Mehrfachbesteiger wie der aktuelle Rekordhalter Kami Rita aus Nepal mit 28 Gipfelankünften kommen nur einmal vor. Die aktuelle Saison, die mit der Zahl der ausgestellten Gipfel-Genehmigungen – 466 an der Zahl – wieder einen neuen Rekord aufstellt, wird erst danach abgerechnet, wenn am Berg wieder Ruhe herrscht.
Menschenmassen am Everest
Bis dahin bevölkern Menschenmassen von Gipfelaspiranten mit ihren Tour-Agenturen und deren Servicepersonal das Basislager in Nepal, bis zu 900 Menschen werden gleichzeitig am Aufstieg sein. Gut die Hälfte davon sind diejenigen, ohne die gar nichts geht am Berg: die Sherpas, ein vor etwa 500 Jahren aus Osttibet in den Himalaja eingewandertes Volk. Neben ihrer eigenen Sprache zeichnet sie eine besondere Höhentauglichkeit aus. Viele leben von den Bergtouristen, die jährlich Millionen in die Kassen des bitterarmen Landes spülen.
Allein 10 000 Euro zahlt man aktuell für die Genehmigung zur Besteigung des Berges, das Tour-Gesamtpaket mit Bergführer, Vollpension, Gepäcktransport und Sauerstoff gibt es ab etwa 50 000 Euro. Nach oben sind keine Grenzen gesetzt, denn natürlich findet Bergluxus wie das Einzelzelt mit echtem Bett, der Duschkomfort oder ein schnelles Internet seine zahlenden Abnehmer. Inzwischen arbeiten findige Geschäftemacher daran, Everest-Gipfeltouren auf zwei Wochen zu verkürzen (mit Höhenakklimatisation in der Druckkammer zu Hause und Helikopterservice in eines der Höhencamps), damit das Gipfelglück auch ins Zeitbudget zahlungskräftiger Manager passt.
Leichen pflastern den Weg zum Gipfel
Dabei ist und bleibt der Weg auf den höchsten Gipfel ein Spiel mit dem Tod. Ab etwa 8000 Metern beginnt die Todeszone, in der der Körper abbaut und der Mensch auf längere Sicht nicht überlebensfähig ist. Dagegen hilft weder zusätzlicher Sauerstoff – dass man es auch ohne auf den Gipfel schaffen kann, bewiesen vor genau 45 Jahren Reinhold Messner und Peter Habeler – noch irgendeine der gängigen „Bergdrogen“ von Viagra über Blutverdünner bis hin zum Aufputschmittel. Neben der Höhenkrankheit drohen extreme Kälte, Schnee, Sturm, Lawinen und Gletscherspalten. Bücher und Filme erzählen vom „Drama am Everest“, bei dem 1996 zwölf Menschen starben. Die einen, weil sie der Situation nicht gewachsen waren, die anderen, weil sie ihre Kunden zu retten versuchten.
Rund 300 Menschen überlebten seit 1953 den Everestbesuch nicht. Etwa zwei Drittel von ihnen sind am Berg geblieben, ein Teil pflastert als Leichen den Weg derer, die hinaufwollen. Manche jagen nach Rekorden – schnellste Besteigung (knapp elf Stunden), ältester Mann (80 Jahre), jüngste Frau (13 Jahre) oder danach, der oder die Erste zu sein: mit dem Snowboard, ohne Arm oder Bein, als Familie oder Brautpaar sowie die jeweils Ersten aus aller Herren Länder, Regionen, Städte. Andere suchen Lebenssinn, Selbstbestätigung, Abenteuer.
Der höchste Berg der Erde wächst weiter
„Weil er da ist“, soll George Mallory einmal gesagt haben auf die Frage, was ihn auf den Everest hinauf drängt. Der Brite hatte bereits in den 1920er Jahren versucht, den Everest zu erstürmen – von der Nordseite in Tibet aus, denn das Königreich Nepal war bis zum Zweiten Weltkrieg für Ausländer verschlossen. Von seinem letzten Besteigungsversuch kehrte Mallory nicht zurück. Seine Leiche wurde erst 1999 gefunden und bis heute wird darüber spekuliert, ob er und sein Begleiter Andrew Irvine nicht vielleicht doch zuvor auf dem Gipfel waren. Beweise dafür oder Spuren davon gibt es freilich keine. Auch von der Nordseite her wurde der Berg inzwischen regelmäßig erklommen – mit Corona sperrte China allerdings alle seine Achttausender für Ausländer und zeitweise sogar für die eigenen Bergsteiger.
Die Geschichte des Berges, dem die Briten nach erfolgreicher Vermessung als höchster Punkt der Erde 1852 den Namen ihres verdienten Landvermessers George Everest gaben, ist natürlich viel älter als die seiner Besteigung. Vor etwa 50 Millionen Jahren, so schätzen Wissenschaftler, rammte die indische Erdplatte von Süden her die eurasische Platte und schob den Himalaja auf. Sie schiebt bis heute, weshalb der höchste Berg der Welt jährlich um einige Millimeter wächst.
Mutter des Universums und Stirn des Himmels
Lange, bevor die westliche Welt den Berg vermaß und vereinnahmte, verehrten die Bergvölker den Giganten aus Fels und Eis. Für die Tibeter ist er Chomolungma, die Mutter des Universums, in Nepal spricht man vom Sagarmatha, der Stirn des Himmels. Bis heute beginnt jede Everesttour mit einer Zeremonie, bei der die Sherpas den Berg um Erlaubnis und die Götter um den Segen für ihre Besteigung bitten. Den Frieden, den die Erstbesteiger einst auf dem Berg verspürten, wird es aber wohl so schnell nicht wieder geben. In den Dimensionen der Erdgeschichte gemessen, ist die Phase, in der Menschen dem höchsten auf der Nase herumtanzen, aber tröstlich kurz.