Filmwinter-Team in der Spaßoffensive: Ivonne Richter, Giovanna Thiery und Marcus Kohlbach sowie Matthias Müller, erster Vorstand von Wand5 e. V. Foto: Filmwinter /Filmwinter

Am 12. Januar beginnt in Stuttgart das 36. Experimental-Festival Filmwinter. Das Motto: „Unendlicher Spaß“. Wir klären, was es damit auf sich hat.

Wo ist in einer Gegenwart, in der jede und jeder in jedem Moment weltweit eigene Realitäten präsentieren kann, der Platz für ein Experimentalfilmfest und eine betont interaktive Medienkunst-Schau? Auf jeden Fall in Stuttgart. Vorhang auf also für den 36. Stuttgarter Filmwinter von 12. bis zum 17. Januar.

Fitz! und Tri-Bühne als Festivalzentrum

Festivalleitung (Giovanna Thiery und Marcus Kohlbach) und Team sind seit Jahren eingespielt – und auch an den Festivalbühnen hat man nicht gerüttelt. Der Filmwinter bestätigt die Theater Fitz! und Tri-Bühne im Tagblattturm-Areal auf ganz eigene Weisen als Zukunftsbühnen, die Ausstellung Expanded Media deutet einmal mehr an, was im Ausstellungsraum Kunstbezirk (Gustav Siegle-Haus) ganzjährig möglich wäre. „Die Nähe zum Festivalzentrum im Fitz und der Tri-Bühne ist enorm wichtig“, sagt Festival-Co-Leiter Marcus Kohlbach, „für die Ausstellung Expanded Media hat sich diese räumliche Achse seit Jahren erfolgreich bewährt“.

Wie aber kann nach der Pandemie, angesichts eines Krieges gegen Europa und inmitten weltweit schwindenden Rückhaltes für demokratische Gesellschaften ein Festival ausgerichtet sein, das „als spartenübergreifendes Zusammenwirken von Film, Medienkunst und Network Culture“ (Kohlbach) klassisch auf intelligente Analyse baut?

Auch Kinder sind Filmentdecker/-innen wie hier in „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ (am 15.1. um 14 Uhr in der Tri-Bühne). Foto: Alexandra Nebel

„Unendlicher Spaß“ ist das etwas überraschende Motto des 36. Filmwinters. „Damit“, sagt Festival-Co-Leiterin Giovanna Thiery, „bezeichnen wir, dass wir inmitten der Blase der größten Spaßinszenierung einer schönen neuen Welt sind, in der jedes noch so kleine Ereignis medienwirksam in Szene gesetzt wird und in der alles zur Unterhaltung wird.“ Und vermutlich auch als Reflex auf die Hyperpolitik-Idee „dass wohl alles politisch ist, sich aber nichts verändert“, sagt Thiery: „Es wird immer unklarer, wie und wofür wir Stellung beziehen können, der Spaß hat uns im Würgegriff.“

Spaß mit bitterem Beigeschmack

Der Spaß, man ahnt es, hat mehr als einen bitteren Beigeschmack. Etwa, wenn im Kurzfilmprogramm Miguel Goya und Tina Wilke in „Las Floras/The Flowers“ aus Handyfotos von Blumenfeldern ein Kaleidoskop der Einsamkeit von Migrantinnen und Migranten entstehen lassen, die, wohl im Westen, aber doch im Niemandsland an der Produktion zu verschenkender Träume arbeiten. „Film und Medienkunst“, sagt Giovanna Thiery, „möchten Denkmuster überholen, um Zwischenräume zu besetzen.“ Das dem 1996 erschienenen Buch „Unendlicher Spaß“ des US-amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace (1962–2008) entlehnte Filmwinter-Motto führt Giovanna Thiery noch auf eine andere Spur: „Ironisch handeln“, sagt sie, „heißt, Mut zu neuen Harmonien zu zeigen und konstant auf die anderen Seiten der Medaille – die nie nur zwei hat – hinzuweisen.“

Mut zu neuen Harmonien – dies wäre also vielleicht der zwingende Umkehrschluss und der Wegweiser hin zu Filmwinter-Beiträgen wie dem Projekt „XBPMMM – Leaking Bodies, Porous Minds, M3lt1ng M4ch1n3s“ von Janne Kummer und Anton Krause über Normierung, Quantifizierung, Optimierung und Mechanisierung von Körpern. Künstliche Realitäten sind notwendig, um sich selbst zum Forschungsgegenstand zu machen – der Filmwinter, das zeigt sich nicht nur hier, ist zugleich Schrittmacher für den Dialog an den Schnittstellen von digitalen Technologien künstlerischen Äußerungen.

Hermetisch aber will das Festival dadurch nicht sein. Im Gegenteil: „Man kann kein Festival für alle machen“, sagt Giovanna Thierry, „man kann aber mutig neue Zugänge schaffen“. Dazu gehört etwa das Projekt „Film aller Filme“.

Start mit „Film aller Filme“

An ganz unterschiedlichen Orten und ganz unterschiedliche Menschen wurden Fragen gestellt wie: Was bewegt mich? Wie sehe ich mich in einer Gesellschaft? Welche Rolle hat die Kunst? Wie will ich leben? „Das war“, sagt Thiery, „eine soziologische Feldforschung. Wir haben Menschen kennengelernt, die unsere Sichtweise erweitert haben.“ Zu sehen ist der „Film aller Filme“ am Eröffnungsabend an diesem Donnerstag, 12. Januar, um 19 Uhr im Fitz!-Theater.

Stadt und Land tragen das Festival

Und auch dies zählt zum Offenheitsverständnis der Filmwinter-Verantwortlichen: Wer keinen Festivalpass (30 Euro, Online-Zugang 20 Euro) kaufen möchte, ist dennoch nicht außen vor. Viele Programme kann man kostenfrei besuchen. Umso lieber gesehen sind Spenden für die Mitfinanzierung des 36. Filmwinters, wesentlich getragen durch die Stadt Stuttgart und das Land sowie die Wüstenrot-Stiftung als Förderer und Ritter Sport als Preisstifter.

Sehnsuchtsort Haus für Film und Medien

Nicht zuletzt ist das Festival immer ein Ort der Debatte – und auch in diesem Jahr scheint ein Thema gleich mehrfach auf: „Das Haus für Film und Medien“, sagt Giovanna Thiery, „wird Ort für Dialog, Bildung, Partizipation, Austausch. Ein Ort, den nicht nur Stuttgart, sondern jede Stadt braucht.“ Das Eigeninteresse des Filmwinters für das auf dem Areal des heutigen Breuninger-Parkhauses geplante Projekt benennt Marcus Kohlbach offensiv: „Mittel- bis langfristig“, sagt er, „begrüßen wir die Perspektive, dass mit dem Haus für Film und Medien ein Ort entstehen wird, der eine verlässliche Bühne im Herzen der Stadt verankert.“

Filmwinter-Programm

Eröffnung
 Mit der Eröffnung der Ausstellung Expanded Media und der Online-Performance „Davosboros“ von Nathaniel Sullivan in den Räumen des Kunstbezirks (Gustav-Siegle-Haus am Leonhardsplatz) beginnt am Donnerstag, 12. Januar, um 17 Uhr die 36. Ausgabe des Experimentalfilmfestes Filmwinter. Um 19 Uhr startet im Fitz-Theater (Tagblattturm, Eberhardstraße 61a) das Filmprogramm, gefeiert wird von 21 Uhr an im benachbarten Theater Tri-Bühne.

Programm
 Zu den Filmwinter-Höhepunkten (die Angebote sind kostenlos, Spenden sind erwünscht) zählen neben Expanded Media und Kurzfilmwettbewerb das Projekt „XBPMMM – Leaking Bodies, Porous Minds, M3lt1ng M4ch1n3s“ von Janne Kummer und Anton Krause im Fitz-Theater (am 13.1. von 16 bis 21 Uhr, am 14.1. von 19 bis 22 Uhr; jeweils 60 Minuten, Anmeldung erforderlich). Mehr Informationen gibt es hier.