Die Bundespolizei am Stuttgarter Hauptbahnhof sieht live am Monitor alle Bilder der Überwachungskameras, die die Bahn im S-Bahn-Netz betreibt. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Der Bundestag hat jüngst eine Ausweitung der Videoüberwachung beschlossen. Besonders private Betreiber könnten davon profitieren – im Namen der Terrorbekämpfung.

Stuttgart - Achtet man nicht auf sie, sind sie praktisch unsichtbar. Und doch allgegenwärtig. Sie verstecken sich an der Decke, an Wänden oder in Hauseingängen. Sie sind Streitobjekt im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und persönlicher Freiheit. Und sie sehen alles, was sich vor ihrem technischen Auge bewegt. Überwachungskameras haben längst die Städte erobert.

Ein kleiner Test in Stuttgart zeigt das deutlich. Mit der S-Bahn zur Haltestelle Rotebühlplatz. Im Zug: Kameras. Auf dem Bahnsteig: Kameras. Mit der Rolltreppe nach oben in die kleine Ladenzone. An der Decke: Kameras. Weiter die Theodor-Heuss-Straße hinunter. An den Zugängen zu fast allen Bars hängen kleine Spione. An der Filiale der Bundesbank sowieso. Auch im Hauptbahnhof. In den Geschäften auf der Königstraße, am Eingang des teuren Edel-Juweliers, an der Klingelanlage des Notars. Mal dezent, mal deutlich sichtbar.

Nach Recherchen unserer Zeitung hängen allein in der Landeshauptstadt, in den öffentlichen Verkehrsmitteln und an den Stationen der S-Bahn in der Region um die 3000 Überwachungskameras – ohne die in Geschäften oder an Privathäusern. Die Mehrheit zeichnet nur auf, man kann das Material anschließend sichten, etwa um Straftaten aufzuklären. Beim kleineren Teil findet das sogenannte Monitoring statt. Dort überwacht Personal das Geschehen direkt auf einem Bildschirm – man könnte sofort eingreifen, wenn die Situation das erfordert.

Mehr Kameras in Einkaufszentren oder vor Fußballstadien

Die Videoüberwachung spaltet die Gemüter seit Langem. Die einen fürchten den Überwachungsstaat, die anderen halten das Mittel für geeignet, um mehr Sicherheit zu schaffen. In Zeiten von Terroranschlägen auch in Deutschland hat die Debatte zusätzlich Fahrt aufgenommen. In Umfragen haben sich zuletzt knapp zwei Drittel der Bundesbürger für mehr Videoüberwachung ausgesprochen. Und auch der Bundestag hat jüngst gehandelt. Unter dem Protest der Opposition sind die Bestimmungen gelockert worden. Vor allem privaten Betreibern soll so das In-stallieren von Kameras erleichtert werden, zum Beispiel in Einkaufszentren, vor Fußballstadien oder auf Parkplätzen. Und zwar immer dann, wenn es Sicherheitsaspekte erfordern – im Hintergrund steht die Hoffnung, Terroranschläge verhindern oder zumindest besser aufklären zu können.

So mancher Fachmann hält das für groben Unfug. „Man kann doch nicht privaten Betreibern öffentliche Sicherheitsaufgaben überlassen. Dafür ist die Polizei zuständig“, sagt Stefan Brink. „Wir leben in Zeiten, in denen die gefühlte Sicherheit eine große Rolle spielt“, weiß der Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Dabei seien aber Polizeistreifen effektiver als private Kameras, die zudem nur in den wenigsten Fällen am Monitor direkt eingesehen würden und schon allein deshalb Straftaten kaum verhindern könnten. Terroristen ließen sich davon nicht abschrecken. Er befürchtet, dass unter diesem Deckmäntelchen künftig reihenweise private Kameras aufgehängt werden: „Das ufert aus und ist nicht mehr in den Griff zu kriegen.“ Die Zahl der Beschwerden nehme bereits seit Jahren massiv zu.

Allerdings sieht Brink die Sache nüchtern, denn er glaubt gar nicht daran, dass der Beschluss Bestand haben wird: „Im März 2018 bekommen wir ein neues europäisches Datenschutzrecht. Dann könnte die jetzige Regelung wieder vom Tisch sein. Die hat schlicht mit der Bundestagswahl zu tun“, glaubt der Datenschützer. Und dem Bedürfnis der Bürger nach einem höheren Sicherheitsgefühl im öffentlichen Raum.

Die ECE prüft bereits die Möglichkeiten

Was Brink stört, stößt anderswo auf offene Ohren. Die ECE, die bundesweit zahlreiche große Einkaufszentren betreibt, fordert schon seit Jahren bessere Möglichkeiten zur Videoüberwachung. Bisher dürfen zum Beispiel die Ladenstraßen oder die Zugänge nicht gefilmt werden. In den Centern, etwa im Stuttgarter Milaneo, den Königsbau-Passagen oder den Breuningerländern, werden neben den Innenbereichen der einzelnen Geschäfte bisher nur Notrufknöpfe, Anlieferungszonen, Parkhauseinfahrten oder Kassenautomaten überwacht. Die Behörden fragen das Material pro Center fünf- bis zehnmal im Jahr an, um Straftaten aufklären zu können.

„Wir sind grundsätzlich der Ansicht, dass eine Videoüberwachung unserer Shopping-Center ein Beitrag zu mehr Sicherheit sein kann. Daher begrüßen wir den aktuellen Beschluss des Deutschen Bundestages“, sagt ECE-Sprecher Lukas Nemela. Gemeinsam mit den Datenschutzbehörden prüfe man derzeit die neue Rechtslage – und wolle dann handeln: „Sobald wir Rechtssicherheit haben, werden wir sicherlich aktiv werden und uns mit der Installation zusätzlicher Kameras beschäftigen“, so Nemela. Dabei hat er generell die Zustimmung des Handels. „Ich unterstütze das, denn so lässt sich das Sicherheitsgefühl erhöhen und vielleicht ein gewisser Abschreckungseffekt erzielen“, sagt Stuttgarts Citymanagerin Bettina Fuchs. „Eine Überwachung beispielsweise in Einkaufszentren zeigt möglichen Tätern: Hier kommt man nicht ungesehen raus.“

55 Kameras derzeit im Bereich des Stadions

Mit Interesse aufgenommen wird die Gesetzesänderung aber auch anderswo. Während beispielsweise die städtische Veranstaltungsgesellschaft in.stuttgart oder Parkhausbetreiber Apcoa derzeit nicht planen, die Überwachung auszubauen, klingt das bei der Betreibergesellschaft der Mercedes-Benz-Arena nicht so eindeutig. Derzeit hängen laut Informationen aus Sicherheitskreisen im Bereich des Stadions 55 Kameras. Die sind auch immer wieder nötig, wie zuletzt die Ausschreitungen beim Derby des VfB Stuttgart gegen den Karlsruher SC gezeigt haben. „Die neuen Vorschriften sind uns bekannt. Wir beziehen sie in unsere regelmäßige Überprüfung der Situation mit ein – gemeinsam mit den Behörden“, sagt ein Sprecher. Es könnte also durchaus sein, dass nachgerüstet wird.

Wie viele Kameras in Baden-Württemberg hängen, lässt sich nicht sagen. Das Innenministerium hat vor einigen Jahren den Versuch aufgegeben, alle zu erfassen. Derzeit weiß man beim Land nicht einmal, wie viele eigene Liegenschaften videoüberwacht sind. Zumindest für Stuttgart und die Region lassen sich aber Größenordnungen ermitteln. So hängen mittlerweile in allen 157 Zügen der S-Bahn jeweils mehrere Kameras, auch alle 83 Stationen sind überwacht. Dazu kommt etwa jeder zweite Regionalzug. Alle 250 Busse der Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) und alle 185 Stadtbahnen verfügen über Kameras, allerdings nicht die Stadtbahnhaltestellen. Dazu kommen Parkhäuser, Museen, Tankstellen, Wertstoffhöfe, Veranstaltungsorte, der Flughafen oder die Wilhelma. Die Stadt selbst betreibt rund 250 Kameras – in Tunneln, an Straßen, den Mineralbädern, der Bibliothek oder am Planetarium. Alles in allem kommt man so auf rund 3000 – Geschäfte und Privathäuser nicht mitgerechnet.

Die Polizei betreibt selbst keine einzige Kamera

Überraschend ist dabei: Die Polizei betreibt keine einzige Kamera in Stuttgart. Und auch nur eine derzeit im ganzen Land, nämlich in Mannheim. Dort ist aber ein Ausbau angedacht. In Stuttgart sieht man das derzeit nicht als notwendig an, weil sich kein entsprechender Kriminalitätsschwerpunkt herauskristallisiert. Selbst die Kameras zur Überwachung der Großbaustelle von Stuttgart 21 sind abgebaut oder abgeschaltet. Dennoch sind Kameras ein wichtiges Mittel: „Bei praktisch jeder Straftat gehört es zu den ersten Schritten, abzuklären, ob es möglicherweise Aufzeichnungen gibt“, sagt Sprecher Stefan Keilbach.

Das sehen auch die Kollegen von der Bundespolizei so. „Kameras sind ein sehr hilfreiches Mittel für uns“, sagt Sprecher Daniel Kroh. Er steht vor zwei großen Bildschirmen im Revier am Hauptbahnhof. Dort wird das Monitoring angewendet – die Kollegen im Einsatz können auf Livebilder von jedem S-Bahnhof in der Region zugreifen. Und natürlich auf die Dutzenden Kameras der Bahn im Hauptbahnhof selbst. Der Vorteil: Bahnt sich zum Beispiel eine Schlägerei an, können die Einsatzkräfte ihre Kollegen vor Ort sofort dirigieren, ihnen Fluchtwege der Täter mitteilen oder deren Aussehen. Außerdem werden die Bilder später bei Ermittlungen eingesetzt und an andere Dienststellen weitergegeben. „Wir verzeichnen damit gute Erfolge“, sagt Kroh. Diebstähle werden so aufgeklärt, Gewalttaten, aber auch Unfälle, deren Ursache sonst unklar geblieben wäre.

In diesem Fall erhöhen Kameras also nicht nur das Sicherheitsgefühl. Doch die Debatte bleibt. Und die Beobachtung. Bei jedem Gang durch die Stadt. In der S-Bahn, am Bahnhof, in Geschäften. Tendenz: steigend.

Das geht, das geht nicht

Was erlaubt ist, wird rechtlich sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene geregelt. Grundsätzlich darf jeder ohne Genehmigung im privaten Umfeld Kameras aufstellen – er ist aber dabei selbst verantwortlich, dass er sich an die gültigen Bestimmungen hält. Datenschützer werden bei Beschwerden aktiv oder wenn ihnen Verstöße auffallen.

Die Polizei darf anlassbezoge Aufnahmen machen. Das gilt zum Beispiel für Bereiche, in denen sich Straftaten häufen.

Unternehmen dürfen ihre Räumlichkeiten oder Geschäfte überwachen, Privatleute ihr Grundstück oder ihre Wohnung. Dafür muss ein berechtigtes Interesse vorliegen – zum Beispiel der Schutz vor Ladendiebstahl.

Behörden dürfen nicht ohne besonderen Anlass den öffentlichen Raum überwachen.

Private dürfen mit einer Überwachung nicht die Rechte anderer in unverhältnismäßiger Weise verletzen. Dazu gehören zum Beispiel das Filmen fremder Grundstücke mit Drohnen oder das Übertragen von Szenen aus der Öffentlichkeit im Internet per Handy.

Geschäfte dürfen nicht Mitarbeiter dauerhaft überwachen oder den Bürgersteig erfassen. Kunden dürfen nicht in der Umkleidekabine, auf der Toilette oder im Restaurant beim Essen gefilmt werden.

Auf eine Überwachung muss immer hingewiesen werden, sonst ist sie unzulässig.

Speichern länger als 48 Stunden geht nicht.