„Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ öffnet viele Blickrichtungen – auch die Vogelperspektive. Foto: Tri-Bühne

Willkommen in der Beziehungshölle! Mit Dániel Máté Sándors Neuinszenierung von Rainer Werner Fassbinders Drama „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ hat das Theater Tri-Bühne das 16. Stuttgarter Europa Theater Treffen eröffnet.

Marlene trägt kurzes Haar mit Herrenwinkern, ein schwarzes Kleid und Highheels, auf denen sie durch die Wohnung ihrer Herrin hechtet. Marlene zeichnet, Marlene nimmt Maß, Marlene mixt Drinks und serviert Essen. Marlene macht das Bett und packt Koffer mal ein, mal aus. Marlene tut, was man ihr sagt, sie redet nie. Dazu guckt sie wie eine traurige Sphinx aus ihren Smokey Eyes, während ihre Herrin, die Modedesignerin Petra von Kant, keift, heult, bellt und säuft – ein Trauerspiel, das Leben dieser Marlene, das der Theater- und Filmberserker Rainer Werner Fassbinder zunächst für die Bühne geschrieben und 1972 unterm Titel „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ verfilmt hat.

 

Der ungarische Theaterregisseur Dániel Máté Sándor hat Fassbinders seiner Zeit umstrittenes Stück nun im Rahmen des 16. Stuttgarter Europa Theater Treffens, kurz SETT, am Theater Tri-Bühne inszeniert. Auf einem den Bühnenraum füllenden Matratzenlager mit eingebauter Drehscheibe, über der vier Spiegel hängen, entrollt sich das Melodram um Petra (Silvia Maria Passera) und Marlene (Manuel Krstanovic), deren ohnehin schon ungesunde Beziehung durch das Eintreffen der jungen Ungarin Kriszta (Dominika Rezes) auf eine harte Probe gestellt wird.

Liebe? Oder Hölle?

Wer Fassbinders Film kennt, weiß, dass bei ihm das Model Karin Thimm aus Australien und nicht die Ungarin Kriszta die Machtverhältnisse im Haushalt der Petra von Kant auf den Kopf stellt. Und dass Fassbinder hier wohl eigene Beziehungsturbulenzen mit ihm hörigen Mitgliedern seines 1970 zerbrochenen Münchner Antiteaters verarbeitete.

Dániel Máté Sándor geht es jedoch allgemein um die im Stück abgebildeten Abhängigkeiten von Menschen, die behaupten, einander zu lieben, sich in Wahrheit aber das Leben gegenseitig zur Hölle machen.

Eigenständig ist vor allem dessen ästhetischer Zugriff: Während Fassbinder das hochkünstliche Kammerspiel in Petra von Kants großbürgerlicher Wohnung verortete, baut Máté Sándor seine Bettenlandschaft als stilisierte Peep-Show-Installation auf, um die das Publikum wie Voyeure in vier Blöcken positioniert ist. Jeder Block verfolgt das Geschehen zusätzlich in einem der vier über der Spielfläche aufgehängten Spiegel aus der Vogel-Perspektive. Auf dem in die Matratzen integrierten Drehelement betreiben Petra und Kriszta wie auf dem Präsentierteller einen exhibitionistischen Seelenstriptease, umkreist von der verletzten Marlene.

Selbst gewähltes Unglück

Der Plot selbst ist schon bei Fassbinder relativ dünn: Petra von Kant ist eine nach ihrer Scheidung Vereinsamte, die sich von Männern nicht besitzen lassen will. Teenagertochter Gabi (Natalja Maas) weilt meistens im Internat, Mutter Valerie (Aki Tougiannidis) reist durch die Welt und Freundin Sidonie (Stefanie Matkovic) kommt nur zum Feiern oder Tratschen. Deshalb sucht Petra die Nähe der Frau aus dem Ausland, die sich durch ihre Hilfe zum Shootingstar der Modeszene mausert, ehe sie ihre Gönnerin wieder fallen lässt. Fassbinder sah sich einst mit Vorwürfen konfrontiert, sein Film sei frauenfeindlich, er konterte, er sei einfach nur ehrlich.

In Sándors Inszenierung erweist sich auch Silvia Maria Passeras Petra als abstoßend egozentrisches Biest, das nur vor der emotional grobschlächtigen Kriszta in die Knie geht. Die spiegelt im Spiel von Dominika Rezes westeuropäische Vorurteile gegenüber Osteuropäerinnen wider: Kriszta hat im Gegensatz zu Petra keine Ahnung von Kunst und Kultur, stammt aus einer prekären, gewalttätigen Familie und geht durch alle Betten. Weshalb Petra sie schließlich als „Balkanschlampe“ und „miese Hure“ erniedrigt, aber trotzdem nicht von ihr lassen kann.

Kritiker von Fassbinders Version störten sich am melodramatischen Kitsch der Vorlage, wovor auch Sándors klug durchdachte, aber stark auf Petras Hysterie abgestellte Adaption nicht ganz gefeit ist. Letztlich leiden die Figuren in ihrer privaten Blase, sie verweisen auf nicht viel mehr als auf ihr selbst gewähltes Unglück. Angesichts der Grausamkeiten, die sich Menschen gerade im großen Maßstab antun, ist das doch eher wenig.

Info

SETT
Bis zum 30. 11. stellt die 16. Ausgabe des Stuttgarter Europa Theater Treffen, kurz SETT, unter dem Motto „Junge Stimmen Europas“ Produktionen europäischer Theaterschaffender vor.

Hingucker
Der Ungar Dániel Máté Sándor hat am Theater Tri-Bühne schon mit seiner crossmedialen Operninszenierung „Gianni“ (am 15. 11. und am 16. 11.) nach der Oper von Giacomo Puccini große Aufmerksamkeit erregt. Beim Festival ist nun auch das Stück mit dem Titel „100 Songs“ (am 12. 11. und am 13. 11.), eine Co-Regiearbeit mit László Bágossy und Noémi Vilmos zu sehen.

Filmprojekt
Am 14.11. wird im Rahmen des Festivals Jakab Tarnóczis Film „Melancholy Rooms“ vom Budapester Katona Jószef Theater auf die Bühne gebracht.

Darstellende Kunst
Am 19. 11. und am 20. 11. gastiert die Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg aus Ludwigsburg mit der Produktion „My Head is full of Fog“ beim SETT. Unter der Regie von Stas Zhyrkov reflektiert die ukrainische Schauspielklasse über Vergangenheit und Zukunft ihrer Heimat.

Litauen
Das Oskaras Koršunovas Theatre aus Litauen spielt am 23. und am 24. 11. Anton Tschechows „Die Möwe“ in einer Adaption von Jokūbas Brazys; der Regisseur schloss sein Studium 2021 ab.

Griechenland
Ohne Worte kommt das Stück „Goodbye Lindita“ (29./30. 11.) vom Nationaltheater Griechenland in der Regie von Mario Banushi aus.

Infos
unter: www.sett-festival.eu