Galt als Statthalter bin Ladens in Hamburg und als Kontaktperson der 9/11-Todespiloten: Mohammed Haydar Zammar Foto: AP

Deutsche Geheimdienstler wussten fast alles über die Todespiloten von New York und Washington.

Hamburg - Fast alle, die der Terrorgruppe um den Todespiloten Mohammed Atta zugerechnet werden, waren dem Verfassungsschutz früh aufgefallen - bei der Überwachung des seit Jahren in Syrien inhaftierten deutschen Staatsbürgers Mohammed Haydar Zammar ("Operation Zartheit").

Mittwoch, 17. Februar 1999, Hamburg, Bilsener Straße. Kaminroter Klinkerbau, Erdgeschoss links, zwei Zimmer für neun Personen. Bei Familie Zammar klingelt das Telefon, der Hörer wird abgenommen. Bei den Beamten des Bundesamtes für Verfassungsschutz springt das Tonbandgerät an. Wo denn der Bruder Haydar sei, will der Anrufer wissen. Der sei nicht da, erfährt er, wenn es sehr eilig sei, könne er aber unter der Nummer 76 75 18 30 in Hamburg erreicht werden. Dort sei Zammar zusammen mit Mohammed, Ramzi und Said.

Ein Telefonat hätte die Anschläge verhindern können

Es ist dieser Anruf, der die Tragödie des 11. September 2001 hätte verhindern können. Ein Telefonat, das die Ermittler direkt zu den mutmaßlichen Todespiloten geführt hätte, die ihre Flugzeuge in das World Trade Center steuerten. 31 Monate vor den Anschlägen in New York und Washington. Ein Telefonat, das penibel protokolliert in einem lindgrünen Pappordner abgeheftet, in seiner Brisanz erst dann erkannt wird, als die Zwillingstürme eingestürzt sind.

Hamburg, 76 75 18 30, das ist die Telefonnummer der Wohnung in der Marienstraße54 in Harburg, in der die drei führenden Täter des 11. September lebten: Mohammed Atta, der Anführer der Hamburger Zelle; Ramzi Binalshibh, Attas Stellvertreter und Finanzchef der Truppe; Said Bahaji, der Verwaltungschef, der die geschäftlichen Angelegenheiten der Terroristen regelte.

Das Trio hockt an diesem Tag zusammen mit Mohammed Haydar Zammar in der Dreizimmerwohnung. Vielleicht ist es wieder so ein Tag, an dem Zammar die Studenten drängt: "Kämpft! Allah verlangt es von euch!" Zammar ist eine Art Statthalter Osama bin Ladens in der Hansestadt. Er erkannte als einer der Ersten, dass sich Atta und seine Glaubensbrüder in Hass hineinsteigerten - und radikalisierte sie. "Wer hat die Autobombe erfunden? Die Amerikaner!", polterte Zammar in der Al-Quds-Moschee hinter Hamburgs Hauptbahnhof. "Wer sind die größten Terroristen? Die sogenannte zivilisierte Welt!"

Lebensunterhalt durch Sozialhilfe und Kindergeld

Es sind solche Reden, die die Geheimdienste auf den im syrischen Aleppo gebore-nen Deutschen aufmerksam machen. 195 Zentimeter groß, knapp drei Zentner schwer. Ein gepflegter schwarzer Bart, der den Hals verdeckt. Das Haar kurz, Naturlocken. Wallender blauer Kaftan, das farblich abgestimmte Palästinensertuch um den Hals gewickelt. Dieser Mann ist Mitte der 90er in all den Hamburger Moscheen zu Hause, in denen auf westliche Kultur und Lebensweise gehetzt wird, die USA verdammt und Juden rhetorisch vernichtet werden. Zammar ist glaubwürdig für die Männer der Terror-WG, weil er den Heiligen Krieg bereits hinter sich hatte. Den Dschihad, von dem Atta und seine Adjutanten noch träumten. In Afghanistan soll er gegen die Rote Armee gekämpft haben. In Bosnien schoss der deutschsyrische Mudschahid auf Serben.

Auch die Kölner Verfassungsschützer kannten Zammar. Der türkische Geheimdienst hatte 1996 die deutschen Geheimen auf den Kriegsreisenden aufmerksam gemacht. Er habe mehr als 40 Mal die Türkei über Istanbul und Ankara verlassen, um in diverse Krisengebiete zu reisen. Und: In der Hansestadt betreibe der Hüne ein "dubioses Reisebüro", das Flüge für radikale Muslime nach Afghanistan organisiere.

Zwar regten Osama bin Laden und seine El Kaida damals deutsche Staatsschützer allenfalls am Rande auf - diesen Bosnienkrieger Zammar wollten sie sich dann doch genauer anschauen. Im Herbst 1997 gründeten die Kölner Verfassungsschützer eine Ermittlungsgruppe. Ihr Ziel: Mohammed Haydar Zammar, geboren 1961 in Aleppo, Syrien, seit 1982 deutscher Staatsbürger. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit Sozialhilfe und Kindergeld. Bei Namen für die Ausspähaktion blieben die Beamten kölschem Frohsinn treu und tauften sie in Anspielung auf den 140-Kilo-Mann "Operation Zartheit". Von nun an observierten von Zeit zu Zeit Ermittler Hamburger Moscheen, schöpften Spitzel ab und koppelten ihre Tonbänder an Zammars Telefon. Die Verfassungsschützer schöpften ihr ganzes Repertoire aus.

Zammar ist ein religiöser Fanatiker

Schon bald wird den Analysten am Rhein klar: Zammar ist ein religiöser Fanatiker, der vor allem in der Al-Quds-Moschee beim Hamburger Hauptbahnhof agitiert. Dort zeigt der Bärtige offen seine Verehrung für Osama bin Laden, den er in Afghanistan kennengelernt haben will. Er berichtet den überwiegend jungen Besuchern, wie er in den Lagern am Hindukusch im Umgang mit Waffen und Sprengstoff gedrillt wurde. Auch Todespilot Atta und seine Kumpane lauschen irgendwann ab 1998 fasziniert dem polternden Zammar: "Besinnt euch eurer religiösen Pflichten, zieht in den Heiligen Krieg und bekämpft die Ungläubigen!"

Die mitlauschenden Geheimen wissen nicht so recht, was sie mit Zammar anfangen sollen. Hören sie da einem Terroristen zu - oder bloß einem Maulhelden, wie sie in vielen einschlägigen Moscheen zu finden sind. 1998 erreicht die Staatsschützer ein weiterer Hinweis auf den umtriebigen Zammar, diesmal aus Italien. In Turin hatten Carabinieri Islamisten festgenommen, die nach Erkenntnissen der Staatsanwälte Anschläge auf US-Einrichtungen in Europa vorbereiteten.

In der Wohnung der Männer fanden Polizisten ein Waffen- und Munitionsarsenal, Perücken, falsche Bärte und eine Adressenliste. Auf der lasen die Spurensucher die Hamburger Adresse und Telefonnummer Mohammed Haydar Zammars, versehen mit dem Zusatz "Fratello Mohammed" sowie dem Zusatz "Abu al-Hassan" - Vater von Hassan. Schnell fanden deutsche Fahnder heraus, dass Zammars Sohn Hassan heißt.

Der Syrer musste laufen gelassen werden

Inzwischen interessieren sich auch amerikanische Spione sehr für den Hamburger Dschihad-Prediger Zammar. Sie sind über eine ganz andere Spur auf ihn aufmerksam geworden. Zwei Hinweise hatte die CIA auf den in Syrien geborenen Deutschen Mamoun Darkazanli aufmerksam gemacht. Der heute 57-Jährige lebte damals an der Hamburger Außenalster im Stadtteil Uhlenhorst. Von hier aus betrieb er eine Handelsfirma, die "Waren aller Art" verhökerte, bevorzugt Maschinen und Elektrogeräte.

Darkazanlis Adresse hatten Ermittler des größten US-Nachrichtendienstes bei einem der Hauptdrahtzieher der Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam gefunden. Und: Wegen dieser Anschläge in Afrika nahmen Beamte des deutschen Bundeskriminalamtes im September 1998 den mutmaßlichen Finanzchef bin Ladens, Mamduh Mahmud Salim, in Grüneck bei Freising fest. CIA und FBI hatten den Mann in Oberbayern aufgespürt. Salim wurde den US-Fahndern ausgeliefert. Bei den weiteren Ermittlungen wurde deutlich: Darkazanli hatte für den Bin-Laden-Getreuen bei der Deutschen Bank in Hamburg seit 1997 ein Konto unterhalten.

Umschulung auf Kosten des Staates

Was war der Sinn dieses Kontos? Geldwäsche? Terrorfinanzierung? Darkazanli gab sich gegenüber den Ermittlern des Hamburger Landeskriminalamtes unschuldig. Er wisse von nichts. Das Konto sei eingerichtet worden, um Kommunikationstechnik für den Sudan zu kaufen. Das Geschäft sei jedoch nie zustande gekommen. Die Polizisten konnten dem gebürtigen Syrer nichts nachweisen - und ließen ihn laufen.

Darkazanlis Weg führte direkt in die Al-Quds-Moschee am Steindamm - und so zu Mohammed Haydar Zammar. Der, so der Plan der Amerikaner, sollte als Spitzel an-geworben werden, um die mysteriöse Szene in der Islamisten-Moschee auszuspionieren. Dem ersten Anwerbegespräch folgte ein zweites - mit dem immer gleichen Ergebnis: Zammar lachte den Werbern der Geheimen ins Gesicht. Er werde keinem Westler dienen, "nur Allah und dem Dschihad". Allerdings nur, fügte er jedes Mal diplomatisch hinzu, "draußen in der Welt, in Bosnien, in Afghanistan" - nicht in Deutschland.

Das aber wurde immer stärker zu einem Knotenpunkt des Terrors. Am 31. Januar 1999 meldet sich bei Zammar telefonisch Marwan al-Shehhi. Er erkundigt sich nach dem Befinden des schwergewichtigen Predigers und dem Wohlergehen der Brüder. Zammar berichtet von seiner Arbeitslosigkeit und der Möglichkeit, sich auf Kosten des Staates umschulen zu lassen. Al-Shehhi erzählt von seinem Studium in Bonn. Zammar bittet ihn, nach Hamburg zu kommen, der Anrufer verspricht, "spätestens nach den Prüfungen im Mai" an die Elbe zu ziehen. Zweieinhalb Jahre später wird Marwan al-Shehhi die Boeing 767 des United-Airlines-Fluges 175 um 9.03 Uhr in den Südturm des World Trade Center fliegen.

Die Terror-WG - leer, frisch renoviert

Alles, was die Ermittler brauchten, um dies zu verhindern, lag 1999 auf ihren Tischen. Während der "Operation Zartheit" - zu Beginn des Jahres 2000 eingestellt - hatten die Fahnder sowohl die führenden Akteure wie ihre Werber kennengelernt. Das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz hatte seine Erkenntnisse vor seinen Hamburger Partnern geheim gehalten.

Der Deutsche Zammar wurde im Oktober 2001 von marokkanischen Sicherheitsbehörden festgenommen und nach Syrien abgeschoben. Dort soll er bis heute im berüchtigten Foltergefängnis Far Falastin im Stadtzentrum von Damaskus festgehalten werden. 2005 wurde er dort von Beamten des Bundeskriminalamtes, des Bundesnachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes vernommen. Sie stellten fest, dass Zammar intensiv gefoltert worden sei.

Das Telefon klingelt - und die Welt verändert sich

Mamoun Darkazanli lebt heute in Hamburg. Er predigt an verschiedenen Moscheen. Die Sicherheitsbehörden können dem Kaufmann keine Straftaten nachweisen. Spanische Staatsanwälte klagten ihn 2004 wegen der Beteiligung an den Madrider Zuganschlägen an und beantragten seine Auslieferung. Der entging er bis heute durch eine Verfassungsbeschwerde.

Alarmiert durch Hinweise aus den USA, fanden Journalisten die Dreizimmerwohnung der Terror-WG in der Marienstraße 54: leerstehend, frisch renoviert. Nur die braune Fußmatte Attas hieß die von Reportern herbeigerufene Polizei "Willkommen".

Die Al-Quds-Moschee am Hamburger Steindamm wurde erst in Taiba-Moschee umbenannt. 2009 brach von hier aus eine elfköpfige Reisegruppe in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet auf, um am Hindukusch zu kämpfen. Im August 2010 verbot Hamburgs Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU) den Betreiberverein und schloss die Moschee. Die Dschihadisten haben sich auf verschiedene Moscheen im Stadtgebiet verteilt.

Die Ergebnisse der "Operation Zartheit" gehören heute mit zu den wichtigsten Beweismitteln für die Aufklärung der Anschläge vom 11. September 2001. Mittwoch, 17. Februar 1999, Hamburg, Bilsener Straße. Das Telefon klingelt - und die Welt verändert sich.