Das Mahnmal "Gebrochener Ring" erinnert an den Amoklauf an der Albertville-Realschule. Foto: dpa

Ex-Rettungsdienstleiter über Folgen für Polizei aus Amoklauf und Nachwirkungen bei Betroffenen. Mit Video

Winnenden/Freudenstadt - Der erste Notruf am 11. März 2009 in der Rettungsleitstelle in Waiblingen ging um 9.34 ein – direkt aus einem Klassenzimmer der Albertville-Realschule Winnenden. Was folgte, hatte sich bis dahin keiner ausmalen können. Der Amoklauf hat 15 Menschenleben gekostet und viele Lebensläufe verändert, auch die von Helfern. Was bleibt zehn Jahre nach der Tragödie? Wir sprachen mit Johannes Stocker. Er war damals der Leiter des Rettungsdienstes im Rems-Murr-Kreis. Als Autor des Buchs "Elf Tage im März" hat er die Erlebnisse für sich aufgearbeitet, die Erkenntnisse aus dem Einsatz flossen in die Ausbildungen bei Rettungsdiensten und Polizei ein.

Herr Stocker, beim Amoklauf von Winnenden vor zehn Jahren haben Sie den Einsatz der Rettungskräfte geleitet. Wie präsent sind Ihnen die Ereignisse heute noch?

Die Ereignisse sind natürlich immer noch präsent. Man kann verarbeiten, aber nicht vergessen. Ich beschäftige mich oft mit dem Thema, aber mehr unter dem Gesichtspunkt, wie man die Sicherheit gemeinsam weiter voranbringen könnte, weniger mit dem furchtbaren Geschehen als solchem. Sonst wäre ich sicherlich nicht mehr in der Lage, meine Arbeit zu machen. Eine für mich bis heute immer noch emotional präsente Erinnerung ist die Situation, als wir den wartenden Angehörigen gegenüberstanden und keine Antworten hatten.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie heute an die Geschehnisse denken?

Da macht sich eine Mischung aus "nachdenklicher Dankbarkeit" breit. Nachdenklich ohne Wenn und Aber, deshalb, weil die ersten Gedanken immer bei den Hinterbliebenen sind und bleiben werden, die damals auf eine schreckliche Art und Weise innerhalb von Sekunden ihre Angehörigen verloren und noch heute mit den Folgen zu kämpfen haben. Meine Gedanken sind natürlich auch bei den beteiligten Einsatzkräften, die vor Ort Schlimmes gesehen und erlebt haben. Die nachrangigen Gedanken erfüllen mich mit einer gewissen Dankbarkeit, da wir mit unserem damaligen Eingreifen zusammen mit der Polizei weiteres Leid verhindern konnten. Ebenso haben wir aus diesem Einsatz Erfahrungen abgeleitet und ein Einsatzkonzept mit der Polizei entwickelt, das bis heute breite Anwendung über Baden-Württemberg hinaus findet.

Seinerzeit waren um die 600 Rettungskräfte im Einsatz. Wie lässt sich ein solches Aufgebot steuern? Wie behält man den Überblick?

Nur im Team und mit einer vorher festgelegten Führungsstruktur bei der Einsatztaktik und Logistik, und zwar über Organisationsgrenzen hinweg. Dabei spielen neben einer klaren Aufgabenzuordnung Disziplin, Aufgabentreue und Aufgabenerledigung eine entscheidende Rolle. Den Überblick behält man, indem alle wichtigen Informationen an einer Stelle, der Einsatzleitung, gebündelt eingehen, analysiert und lösungsorientiert an die jeweiligen Einsatzleiter übermittelt werden. Die Einsatzleiter müssen sich persönlich kennen und vertrauen, um lageabhängige Entscheidungen schnell und effektiv umsetzen zu können. Dies war in Winnenden der Fall.

Was waren die Schwierigkeiten oder Besonderheiten des Einsatzes?

Die größte Schwierigkeit war die Tatsache, dass der Amokläufer immer noch in direkter Nähe des Schulzentrums unterwegs war. Somit bestand immer eine Gefahr auch für die anrückenden Einsatzkräfte. Es gab verschiedene Einsatzstellen, die nicht sofort durch die Polizei gesichert werden konnten. Die größte Herausforderung war, Entscheidungen zu fällen, um den Opfern zu helfen, dabei aber die Rettungskräfte nicht in unnötige Gefahr zu bringen.

Kann man die Gefahr in dem Moment einfach ausblenden und seinen Job machen?

Die Gefahr nicht, aber die Emotionen. Emotionen dürfen keine Rolle spielen, solange man einen Einsatz abarbeitet. Aber sie kommen später hoch, bei jedem auf seine Art und Weise. Der allgemeine Grundsatz lautet immer: schnellst- und bestmöglichste Versorgung der Betroffenen bei größtmöglicher Eigensicherung aller eingesetzten Kräfte. Nach diesem Grundsatz sind Entscheidungen zu treffen. Wenn man die Gefahr für die Helfer ausblendet, gibt man den Einsatz aus der Hand und überlässt die Mannschaft sich selbst.

Unser Video aus dem Jahr 2009:

Wurden, mit heutigem Wissen, Fehler gemacht?

Von Fehlern möchte ich nicht sprechen, sondern vielmehr von situationsabhängigen Verhaltens- und Vorgehensweisen mit dem damaligen Wissen, das zu diesem Zeitpunkt sicherlich noch nicht ausgereift war. Es gab zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch kein Konzept für gemeinsame Vorgehensweisen bei solchen Einsatzlagen. Amokläufe oder Terroranschläge waren bis dato ganz weit weg. Bei der Aufarbeitung wurden Erfahrungswerte gesammelt, die in ein gemeinsames Einsatzkonzept eingeflossen sind.

Haben Sie und Ihre damaligen Kollegen die Erlebnisse verarbeitet oder belastet Sie das noch?

Es gab und gibt einige Einsatzkräfte, die aufgrund dieses Ereignisses leider nicht mehr in der Lage sind, ihren Beruf weiter auszuüben. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich damals vielfältige Unterstützung aus dem privaten sowie aus dem beruflichen Umfeld erfahren durfte.

Sie haben Einsatztaktiken für solche Großlagen entwickelt und halten Seminare, etwa an Polizei-Hochschulen. Was waren für Sie die Konsequenzen aus dem Fall?

Uns, der Polizei und dem Rettungsdienst im Rems-Murr-Kreis, war es sehr wichtig, Handlungsabläufe und -empfehlungen für den gesamten Ablauf zu erarbeiten, vom Eingang der Meldung bis zum Einsatzende. Ziel war es, die unterschiedlichen Akteure mit den jeweils unterschiedlichen Aufgabe unter einen Hut zu bringen. Wenn ich die Aufgaben und Handlungsweisen des anderen kenne und verstehe, kann ich in einer solchen Situation angemessen reagieren, um eine gemeinsam erfolgreiche Einsatzbewältigung zu gewährleisten. Dieses Konzept ist nicht statisch, sondern schreibt sich fort. Es ist mittlerweile Bestandteil der Ausbildung bei Polizei und Rettungsdiensten.

Kann man sich für einen solchen Fall überhaupt vorbereiten?

Man kann sich grundsätzlich auf viele Einsätze vorbereiten, da es zu vielen Szenarien bestimmte festgelegte Abläufe gibt. Trotzdem schreibt jeder Einsatz sein eigenes Drehbuch. Eine gute Vorbereitung ist allerdings die Basis dafür, sich dann nicht nur auf das Improvisationsvermögen verlassen zu müssen.

In ihrem Buch "Elf Tage im März" erzählen Sie die Ereignisse aus Sicht des Einsatzleiters. Was ist die Botschaft?

Eigentlich wollte ich kein Buch schreiben. Ich schrieb und schreibe für meine beiden Kinder meinen Lebenslauf. Dieses Ereignis spielt in meinem Leben eine entscheidende Rolle. Durch einen Gastbeitrag in einem Fachbuch kam der Verlag auf mich zu kam und fragte an, ob ich meine Erlebnisse als Einsatzleiter nicht aufzeichnen möchte. So ist dieses Buch entstanden. Mir war und ist die Botschaft wichtig, dass hinter jeder Einsatzkraft in erster Linie ein Mensch steht. Deshalb ist dieses Buch nicht nur aus Sicht des Einsatzleiters, sondern auch aus Sicht des Menschen Johannes Stocker geschrieben. Was ich mit großer Sorge beobachte, ist die Tatsache, dass Einsatzkräfte immer öfter tätlich angegriffen werden. Dafür fehlt mir jegliches Verständnis. Ich bin für eine Null-Toleranz-Strategie gegenüber solchen charakterlosen Individuen.

Können Sie so etwas wie Verständnis für den Amokschützen und dessen Familie aufbringen, gar verzeihen?

Diese Frage können einzig und allein die Hinterbliebenen beantworten.

Haben Sie eigentlich noch Kontakt zu beteiligten Personen von damals?

Ja, ich habe noch Kontakt zu beteiligten Personen aus den unterschiedlichsten Bereichen. Es haben sich damals aufgrund der sehr intensiven und engen Zusammenarbeit viele persönliche Verbindungen ergeben, vereinzelt auch privat, die bis heute geblieben sind.

Wie werden Sie den Jahrestag begehen?

Ich werde an einer Gedenkfeier im Rems-Murr-Kreis teilnehmen.  

Zur Person

 Johannes Stocker (57) ist seit 1980 hauptberuflich im Rettungsdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) tätig, seither in verschiedenen Positionen. Er hat nach dem Amoklauf Einsatztaktiken für die Zusammenarbeit von Rettungsdiensten und Polizei bei solchen Großlagen, ebenso Notfallpläne für Schulen. Als Co-Autos, Vortragredner und Gastdozent gibt er seine Erfahrungen weiter. Seit 1. Januar 2015 ist Stocker, Familienvater, Geschäftsführer des DRK-Kreisverbands Freudenstadt.