Am Tatort in Rommelshausen erinnert ein Gedenkstein an Yvan Schneider (hier die Einweihung mit Luftballons). Der Schüler wurde am 21. August 2007 dort ermordet. Foto: Martin Stollberg

Vor zehn Jahren wurde Yvan Schneider ermordet. Seine Klassenkameraden erinnern sich an den fröhlichen Kumpel – und nicht an die grausamen Details des sogenannten Zementmordes.

Stuttgart - Sie reden nicht über Yvans Tod. Die Freunde aus der Klassenstufe sprechen über die Lebenszeit, die sie mit dem fröhlichen und sportlichen Kerl teilen durften. Jedes Jahr, wenn sie sich an seinem Geburtstag im Oktober treffen, an dem Baum, den sie auf dem Schulhof für Yvan gepflanzt haben. Seit zehn Jahren kommen sie dorthin – so lange fehlt Yvan schon in ihrer Mitte. „Es ist so schlimm. Wir hatten noch drüber gesprochen, an dem Tag gemeinsam feiern zu gehen“, erzählt die 28-jährige Charlotte (Name geändert), die mit Yvan Schneider in eine Klasse ging. Sie meint die Nacht, in der Yvan starb.

Der 19-Jährige wurde vor zehn Jahren am 21. August ermordet. Eine Jugendliche hatte ihn in einen Hinterhalt gelockt, auf einen Feldweg bei Rommelshausen (Rems-Murr-Kreis). Die Täter schlugen ihn zusammen, töteten den 19-Jährigen. Damit endet die furchtbare Geschichte nicht. Die Täter zerstückelten die Leiche und betonierten die Teile in Blumenkübel ein. Diese versenkten sie im Neckar, den Torso legten sie in einer übergroßen Einkaufstasche im Wald ab. Als Zementmord ist die Tat in Stuttgarts kollektives Gedächtnis eingegangen – wegen der Blumenkübel. Der Haupttäter hat nun seine zehnjährige Jugendstrafe verbüßt. Da gegen ihn auch eine Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik verfügt wurde, über die entschieden werden muss, kommt er noch nicht auf freien Fuß. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft hat für ihn die nachträgliche Sicherungsverwahrung beantragt.

Die Mitschüler verfolgten den Prozess

Alle grausigen Details dieser Tat kamen damals im Gerichtsverfahren gegen die Täterclique zur Sprache. Die Schüler stellten sich dieser Grausamkeit, sie verfolgten den Prozess. Doch das Grauen der Tat ist es nicht, an das sie sich erinnern. „Wenn wir von ihm sprechen, dann nicht über die Tat. Wir malen uns aus, was aus ihm geworden wäre“, sagt Charlotte. Das sei vielleicht Verdrängung oder „eine schönere Realität“, fügt sie hinzu. „Aber es fühlt sich mehr an, als wäre er nach Frankreich gezogen und hätte eine hübsche Frau an seiner Seite und würde nebenberuflich irgendwo Handball unterrichten“, sagt sie. Mit diesen Gedankenspielen trösten sich die Mitschüler, wenn sie am Baum stehen und an Yvan denken. An Yvan, den Witzbold und Klassenkasper, den Charmeur und Mädchenschwarm, den Sportler und Kumpel.

Die Mitschüler haben damals viel Trauerarbeit geleistet. Die Schule half ihnen. Yvan besuchte das Wagenburggymnasium, hatte die zwölfte Klasse hinter sich, das deutsch-französische Abitur stand für den Sohn französischer Eltern an. Aline (Name geändert) zieht einen Briefumschlag aus der Tasche. Zum Vorschein kommen ein Stein und ein schmales orangefarbenes Bändchen, zwei Zeichen dieser Zeit, die nicht so auffällig waren wie die T-Shirts mit der Aufschrift „Gewalt hilft niemals weiter“. Aline sagt fast entschuldigend, dass das Bändchen etwas mitgenommen aussieht. „Das hatten wir damals alle am Handgelenk.“ Und der Stein mit der Aufschrift „Nymals myt Gewalt“ steckte in den Hosentaschen. In Gedenken an Yvan sind die I durch Ypsilon ersetzt.

Die Botschaft der Freunde: „Gewalt ist keine Lösung“

Gewalt ist keine Lösung: Das ist die Botschaft, die für die Schüler bei aller Fassungslosigkeit von Anfang an klar im Vordergrund stand – mit dieser Botschaft, auf T-Shirts gedruckt, saßen die Mitschüler im Gerichtssaal, als sich die Täter dort verantworten mussten. Charlotte erinnert sich an die 17-Jährige, die mit auf der Anklagebank saß. Sie hatte Yvan auf die Wiese gelockt, auf der er ermordet wurde. Ihr Freund, der Haupttäter Deniz E., hatte sie dazu gebracht, Yvan einzubestellen. Deniz E., damals 18 Jahre alt und der Freund der 17-Jährigen, hatte angekündigt, Yvan und weitere Männer töten zu wollen – wohl aus Eifersucht. Zwischen der 17-Jährigen und Yvan soll es ein harmloses Küsschen gegeben haben, mehr nicht. „Ich hatte keine Rachegedanken. Aber dass es ihr schlecht geht beim Gedanken an das, was sie getan hat, das habe ich mir schon gewünscht“, sagt Charlotte.

Es sprengt das Vorstellungsvermögen, was die vier Jugendlichen damals Yvan antaten. Die ganze Stadt stand unter Schock, als der Reihe nach Einzelheiten bekannt wurden. Auch bei der Polizei herrschte Fassungslosigkeit, als die Ermittler in menschliche Abgründe blicken mussten. „Ich werde nie mehr sagen: ,Das gibt es nicht.‘ Alles, was man sich nicht vorstellen kann, gibt es eben doch“, sagt der Erste Kriminalhauptkommissar Aaron Maier, der Leiter der Kriminaltechnik bei der Kripo. Auch mit hartgesottenen Polizisten ist damals etwas passiert: „Wir sind normal ein Haufen, der auch mal Späße macht und locker miteinander umgeht. Damals war es echt schlimm: Von Tag zu Tag wurde es ruhiger. Man merkte, wie alle Kollegen immer zurückgezogener wurden“, erinnert sich Maier, damals Einsatzleiter bei der Kriminaltechnik, an den Fall. An die verbrannten Hände mit tiefen Furchen darin denken seine Kollegen zurück, mit denen der 23-jährige Handlanger des Mörders den Zement anmischte. An den Gestank in der Wohnung im Stuttgarter Osten, in die sie die Leiche zunächst brachten. Vor allem aber an die „furchtbare Kälte“ , die den Ermittlern von den Tatverdächtigen entgegenschlug. Die Kälte, mit der sie die Fragen nach Details beantworteten, das Unvorstellbare aussprachen.

Im Stuttgarter Osten kommt die Tat ans Licht

Der Haupttäter und seine Komplizen brachten die Leiche nach Stuttgart in eine Wohnung, um sie in eine Mülltonne einzubetonieren. Da diese zu schwer war, um sie verschwinden zu lassen, klopften sie den Zement wieder weg und zerstückelten die Leiche. Durch den Verwesungsgeruch aus der Wohnung kam die Tat ans Licht. Die Anwohner verständigten die Polizei, die den Tätern über die Mieterin der Wohnung auf die Spur kam: Sie hatte der Clique den Wohnungsschlüssel während ihrer Abwesenheit überlassen.

In der Polizei ist damals viel passiert. Die Tat hat in den Reihen der Ermittler Leben verändert. „Ein Kollege ließ sich versetzen, sehr schnell danach. Eine Kollegin war danach nicht mehr dienstfähig. Sie verließ die Polizei, inzwischen ist sie verrentet“, erzählt Maier. Im Umgang mit den damals Tatverdächtigen seien alle „vollkommen professionell“ gewesen, „das muss man von einem Polizisten auch erwarten können“. Doch im Hintergrund, jenseits der abgeklärten Professionalität, rumorte es. „Wir waren emotional extrem belastet. Viele hatten Kinder in dem Alter – entweder des Opfers oder der Täter“, sagt Maier. Noch heute sprechen viele oft über den Fall, der nach wie vor auch die Beamten bewegt. Vier Kriminaltechniker, die in der Soko Zement waren, sind nach wie vor in Maiers Team.

Überhaupt werde seitdem viel mehr gesprochen. „Wir arbeiten jeden Fall hinterher auf, auch damals schon. Aber seit diesem Fall achten wir viel intensiver aufeinander, gerade auch ich als Vorgesetzter“, sagt der Dezernatsleiter. Es habe damals nach dem Ende der Arbeit der Soko eine Supervision stattgefunden, mit Seelsorgern. „Auch auf so etwas legen wir seither sehr viel mehr Wert.“ Vor allem habe sich eines geändert: „Keiner wird mehr zu einem Kollegen sagen, stell dich nicht an, trink einen Schnaps. Wir fragen nach, was los ist, wenn es Probleme gibt“, sagt Maier.

Was Polizisten, die jeden Tag mit Gewalttaten zu tun haben, an den Rand des Erträglichen brachte, das mussten auch die Mitschüler verarbeiten. Sie setzen die Fröhlichkeit der Jugend gegen diese bleischwere Grausamkeit. Aline greift ein zweites Mal in ihre Tasche. Nach dem Stein und dem Bändchen kommen Fotos zum Vorschein. Yvan mit zwei Mädchen im Arm, die Trikolore auf die Wangen gemalt, beim WM-Finale 2006 auf dem Schlossplatz. Strahlend: „Man muss immer lachen, wenn man ihn sieht. Nur an dem Abend hat er noch geheult, weil Frankreich verlor“, erinnert sie sich. Yvan mit Kumpels, immer lachend, immer mittendrin, wo was los ist. „Wir sagen auch, dass er jetzt im Himmel richtig für Laune sorgt“, fügt sie hinzu und lacht – mit Yvan.