Ein Arbeiter ruht sich auf einer Baustelle im südchinesischen Kanton aus_ Foto: AP

Der Bauboom verändert das Reich der Mitte radikal. 230 Millionen suchen in den Städten nach Arbeit.

Schanghai - Der Fortschritt hat sich bis zu den Hütten und Flachbauten gefressen, Hochhäuser, so weit das Auge reicht. An diesem sonnigen Herbsttag werfen sie Schatten in die Gassen des alten Schanghai. Wo die Bewohner vor den Häusern sitzen, um zu essen, quatschen, ein Nickerchen zu machen oder ihre Geschäfte zu bereden. Touristen drängen vorbei, gaffen durch die Fenster, während der Führer erzählt, woran es mangelt: Toiletten, Heizungen, Bäder. Begierig saugen Amerikaner, Deutsche und Franzosen ein Stück Alt-China auf, denn schon bald ist es Geschichte.

China wird gerade neu erschaffen. Eine Nation fängt nochmals von vorne an, und das ist nicht sprichwörtlich gemeint. Riesige Stadtteile wurden innerhalb eines Jahrzehnts emporgezogen, im Zeitraffer entsteht ein neues Stuttgart oder Mannheim. Ständig hat man das Gefühl, man fahre durch einen gigantischen Modellbaukasten. Überall stehen Pfeiler in Felder und Wiesen, zum Anschluss bereit – für Brücken, Züge, Autobahnen; allein Dutzende von Flughäfen werden derzeit geplant. Selbst die Einheimischen finden sich kaum noch zurecht, zu schnell verändert sich alles. Das hohe Tempo ist möglich, weil der Staat der alleinige Eigentümer von Grund und Boden ist und zentral planen kann. Anwohner werden einfach umgesiedelt, Bürger-Partizipation ist noch immer ein Fremdwort. Etliche hoffen sogar auf ihre Umsiedlung, denn es gibt Abfindungen, mit denen sich eine kleine Wohnung in einem der Hochhäuser finanzieren lässt, mit Heizung und Bad. Allerdings ist die Lage oft schlecht, die Atmosphäre anonym. Und manche warten heute noch auf das versprochene Geld.

Die Hochhäuser

Ein WC in der Wohnung kannte Huang Jiao (58) in ihrer Kindheit nicht. Sie würde sich daran erinnern, ständig hat sie Zahlen von damals parat, wie wenig Wohnfläche es gab und wie viele Lehmhütten. Sie selbst wohnt in einem der Hochhäuser, wie sie es in Xian, der Metropole in Chinas Westen, zu Hunderten gibt. Auch etliche Umsiedler seien darunter, vor allem aus dem Zentrum der Stadt. „Viele fühlen sich etwas einsam, in ihren alten Wohnungen hatten sie ständig mit den Nachbarn Kontakt.“ Huang arbeitet als Reiseleiterin und lobt lieber die 40 Hochschulen und Universitäten der Stadt.

Die Unis pachteten das Land und bauten Hochhäuser, um sich besser zu finanzieren, erzählt sie. Für Mitarbeiter gebe es beim Kauf einen enormen Rabatt. 300 000 Yuan (35 000 Euro) habe ihre Schwester für 170 Quadratmeter gezahlt, auf dem freien Markt hätte sie wohl 700 000 Yuan (82 000 Euro) gekostet. „Die Preise sind extrem gestiegen“, sagt sie. „Es ist schlimm, wenn sich nicht einmal die Mittelschicht eine Wohnung leisten kann.“ Die meisten Chinesen kauften lieber, statt zu mieten. Man müsse vorsorgen – die Renten seien gering.

Die Neuordnung

Chinas Bauboom treibt nicht nur die Preise nach oben, er verändert das Land in fast biblischen Ausmaßen: Rund 130 Millionenstädte gibt es derzeit, bis 2025 könnten es 220 sein. Dann sollen auch bereits zwei Drittel der Chinesen in Städten leben, heute ist es die Hälfte. Dass die Immobilienpreise in den vergangenen Jahren stärker als die Einkommen gestiegen sind, beklagt vor allem die Mittelschicht, die sich am ehesten neue Wohnungen leisten kann. Am stärksten jedoch wirkt sich der Boom auf die Ränder der Gesellschaft aus. 29 der 50 Reichsten des Landes haben laut „Hurun“-Magazin ihr Vermögen auf Beton gebaut. Der Superreiche heißt Liang Wengen, Chef der Sany Group, dem Weltmarktführer für Betonpumpen. Ihm stehen Millionen Wanderarbeiter gegenüber, die mit der Hoffnung auf etwas Wohlstand aus ihren Dörfern gezogen sind.

230 Millionen sind es nach dem jüngsten Zensus. Das ist so, als würden alle Erwerbstätigen aus den USA, Deutschland, Österreich und der Schweiz ausziehen, um anderswo auf dem Bau, in den Fabriken oder im Handel Arbeit zu suchen. Es ist ein Heer der Hoffnungsvollen und der Willigen – bisher zumindest. Denn die Berichte über Streiks häufen sich. Die Inflation nagt an den Löhnen, und die Arbeiter wollen es nicht länger hinnehmen, dass Unternehmer und Beamte viel stärker vom Aufschwung profitieren.

Die Wanderarbeiter

Xu Lians Vater war selbst einst ein Wanderarbeiter, ein Bauernkind, das sich in den 50er Jahren aufmachte, um in Schanghai auf dem Bau zu arbeiten. „Es war ein jahrzehntelanger Kampf um Wohlstand und Anerkennung“, sagt die 56-Jährige. Auch die Wanderarbeiter heute kämpften um mehr Respekt – „schließlich haben sie unseren rasanten Aufstieg erst ermöglicht“. Das Hauptziel aber sei noch immer das gleiche: möglichst schnell viel Geld sparen. Xu zählt mit den dünnen Fingern auf, was überall im Land geschieht: Viele Arbeiter schlafen auf der Baustelle, weil es oft kostenlos ist. Sie sparen am Essen, aber nicht an der Arbeitszeit. Sie machen kaum Urlaub, dafür aber Überstunden und Akkordarbeit, weil es Zuschläge bringt. 3000 Yuan (350 Euro) verdiene ein Arbeiter im Monatsschnitt in Schanghai. Als ihr Vater genügend gespart hatte, holte er sie und die Mutter in die Stadt, erzählt Xu. „Damals ging es noch leichter.“ Heute können Wanderarbeiter ihre Kinder oft nicht zur Schule schicken, weil sie meist nicht das Wohnrecht in den Städten haben, das ihnen eine günstige medizinische Versorgung und Bildung ermöglicht. Denn rechtlich sind sie noch immer Bürger ihres Heimatorts. Dort bleiben nicht nur unbestellte Felder zurück, sondern auch immer häufiger einsame Kinder: Fast 60 Millionen Kinder wachsen laut einem Regierungsbericht derzeit ohne Eltern auf. „Oma und Opa schauen, dass sie zu essen haben und in die Schule gehen“, sagt Xu. Fürsorge sei das nicht. Deshalb kämpften die Wanderarbeiter auch um eine Reform des Meldesystems, das sie in den Städten zu Bürgern zweiter Klasse macht. „Es ist eine selbstbewusstere Generation.Viele haben die Mittel- oder Oberschule besucht, sie tauschen sich aus.“

Die Regierung ist alarmiert – sie befürchtet Ausschreitungen

Die Risiken

Die Regierung ist alarmiert und befürchtet landesweite Aufstände der Wanderarbeiter. Mit einer Mischung aus Härte und Zugeständnissen versucht sie, Konflikte zu entschärfen. Seit eineinhalb Jahren bekämpft Peking die Immobilienblase und die Inflation, unter der die Unterschicht besonders leidet. Die Hypothekenzinsen und Eigenkapitalanforderungen wurden erhöht, die Kreditkonditionen verschärft. Diesen Oktober sank die Teuerung auf 5,5 Prozent, so tief wie schon lange nicht mehr. Die Häuserpreise gingen in vielen Städten im Schnitt erstmals seit vielen Jahren leicht zurück.

Dass der Immobilienboom sich abschwächen könnte, beunruhigt jedoch die solventen Anleger, die um ihr Erspartes bangen – bisher stiegen die Preise wie bei einem Naturgesetz. Aber selbst in China scheint die Zukunft nicht nur auf Beton gebaut: Jüngst schreckte eine Pleitewelle in Wenzhou im Osten des Landes die Ökonomen auf – Firmenchefs konnten die horrenden Zinsen nicht mehr zahlen. Um an Kredite zu gelangen, hatten sie bei den sogenannten Schattenbanken Höchstzinsen in Kauf genommen. Wie viele Unternehmen und Bürger die informellen Kredite nutzen, ist unklar – doch der Weltwährungsfonds warnte Mitte November vor einer Schieflage im Finanzsystem. Würden die chinesischen Banken taumeln, risse das die Weltwirtschaft mit nach unten. Die meisten Ökonomen glauben allerdings, dass sich eine harte Landung vermeiden lässt, doch zweistellige Wachstumsraten seien künftig passé. Dabei argumentieren sie ähnlich wie Rolf Langhammer vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel: „Die Probleme mit den Schattenbanken sind schwer einzuschätzen“, sagt dieser. „Aber der Staat hat genügend Möglichkeiten zum Regulieren.“

Ob sich auch die Abwanderung in die Städte noch steuern lässt? Im Westen von Schanghai ziehen sich Hochhaus-Parks durch die Landschaft, viele mitten im Bau, immer weiter ins Land, über 100 Kilometer, bis nach Suzhou. In riesigen Lettern prangen die Telefonnummern auf den Fassaden, voller Achter, dem Symbol für Reichtum und Glück. Vielleicht wohnen hier bald Wanderarbeiter. In jedes Haus passt ein kleines Dorf.

Hintergrund: Millionen von Menschen wurden umgesiedelt

* In China gehört der Boden dem Staat. Er vergibt befristet Nutzungsrechte – für Wohngrundstücke in der Regel für bis zu 70 Jahre. Doch eine Garantie ist das nicht. Die Bewohner können auch umgesiedelt werden, wie es ständig bei Bauprojekten geschieht. In Städten wie Peking, Kanton oder Schanghai mussten Millionen von Menschen Großprojekten weichen. Viele von ihnen zogen in Hochhäuser am Rande der Städte, weil die Entschädigungen für eine Wohnung in zentraler Lage nicht ausreichen. In den Neubaugebieten haben sie bessere sanitäre Einrichtungen, aber weniger soziale Kontakte als zuvor.

* Hukou heißt die Wohnsitzkontrolle in China. Sie bindet die meisten Chinesen verwaltungstechnisch strikt an ihren Geburtsort. Für die 230 Millionen Wanderarbeiter in China ist der Hukou ein großes Problem, weil sie sich damit verwaltungstechnisch inoffiziell in den boomenden Großstädten aufhalten. Damit sind ihre Ansprüche an Sozial-, Gesundheits- und Bildungsleistungen der Stadt extrem eingeschränkt. Faktisch sind sie in den Städten Bürger zweiter Klasse. Holen sie ihre Kinder nach, können sie diese nicht in die Schulen der Stadt schicken.

* Der Abriss und Neubau von Häusern ist in China im Gegensatz zu Deutschland eher positiv belegt – schließlich werden auf diese Weise die sanitären Verhältnisse verbessert. Aber auch die Einstellung zum Denkmalschutz unterscheidet sich grundlegend. Oft entscheiden sich die Stadtplaner für das Hollywood-Prinzip – man nehme die Vorlage und mache es nochmals, dafür größer und höher. So wurde die als Touristenattraktion gepriesene „historische“ Altstadt von Schanghai einfach nochmals gebaut. Hier gibt es allerdings Gemeinsamkeiten zu Deutschland: Die Beleuchtung erinnert an einen Weihnachtsmarkt. (dag)