Ingeborg Irion blickt auf 90 Lebensjahre zurück.Foto: Fischer Foto: Schwarzwälder-Bote

Ingeborg Irion wird 90 Jahre alt und fühlt sich wohl in Winterlingen / Noch einmal möchte sie in die Heimat

Von Judith Fischer

Winterlingen. Ingeborg Irion wird 90 Jahre alt. In guter Gesundheit blickt sie auf ihr Leben zurück, das einer wahren Odyssee gleicht. "Ich bin die Älteste von allen in meiner Familie", sagt sie erstaunt, so als ob sie es selbst nicht glauben kann, dass sie nun 90 Jahre alt wird. Und für eine mehrfache Uroma ist sie noch immer erstaunlich fit. Sie selbst führt das auf ein Leben zurück, in dem Sport immer eine wichtige Rolle gespielt hat, und stellt fest: "Das habe ich alles mitgenommen".

Ingeborg Irion kam am 13. August 1924 in Gemmrigheim am Neckar zur Welt. Als sie vier Jahre alt war, trennten sich ihre Eltern, und die Großeltern halfen der Mutter das Kind aufzuziehen. 1930 wanderte die Familie in die damalige Tschechoslowakei aus, denn der Großvater hoffte im Land seiner Vorfahren mehr Arbeit zu bekommen. In Marienbad fand Ingeborg ein neues Zuhause. Sie besuchte erst die Volksschule und dann das Gymnasium in Auschowitz. Als Einzelkind durfte sie verschiedene Sportkurse besuchen, spielte Tennis und übte sich im Florettkampf. Sie war immer die Erste im Turnen und räumte sämtliche Preise ab.

Nach der Schule machte sie eine "Schnellausbildung" zur Krankenschwester, da diese im Krieg dringend gebraucht wurden. Im Lazarett behandelte sie einen kriegsverletzten Soldaten aus Stuttgart und heiratete ihn 1945. Doch bald riss der Krieg das junge Paar auseinander. Nach zehn Tagen Urlaub musste er zurück an die russische Front. Drei Jahre lang hörte sie nichts von ihrem Mann, wusste nicht einmal, ob er noch am Leben war. Zwischenzeitlich wurden Ingeborg Irion und ihre Mutter zwangsausgesiedelt. "Sie haben uns rausgeworfen, zusammen mit 3,5 Millionen anderen." Noch heute fragt sie sich, warum das passieren musste. "Als Deutsche haben wir friedlich unter den Tschechen gelebt, doch dann kam der Krieg, und da war Feierabend."

Als die Amerikaner die Tschechoslowakei verließen, fuhren Mutter und Tochter in den Transportern mit. Die Amerikaner brachten sie nach München und organisierten ihnen eine Wohnung in einer Straße, in der noch mehr Ausgesiedelte lebten. Rückblickend ist sich Ingeborg Irion sicher: "Die Amerikaner haben uns das Leben gerettet."

Aber als Sudetendeutsche wurden sie auch in München wie Eindringlinge behandelt. "Man kann sich das nicht vorstellen, was sich im Krieg für Dramen abgespielt haben", erinnert sich die 90-Jährige. 1948 erhielt sie einen Brief von ihrem Mann, der sich in Kriegsgefangenschaft befand, kurz darauf kehrte er zu ihr zurück. Sie zogen nach Stuttgart, wo er als Oberkellner arbeitete. Dort kam Sohn Rolf-Peter zur Welt, drei Jahre später folgte Tochter Ursula.

Doch viel Zeit war dem Paar wieder nicht vergönnt, im Alter von 52 Jahren verunglückte ihr Mann beim Sturz von der Treppe tödlich. Ingeborg Irion zog aus der gemeinsamen Mietwohnung aus, suchte sich eine neue Bleibe und fing an zu arbeiten, erst im Büro eines Staubsaugerherstellers, dann in einem Supermarkt. 1989 ging sie in Rente und zog nach Winterlingen, wo auch ihre Kinder wohnen. Dort ist sie seitdem im Vereinsleben aktiv und singt seit rund 25 Jahren im gemischten Chor "cantus iuvenis". Auch ihren sportlichen Lebensstil behielt sie bei: Sie war so lange aktives Mitglied im Turnverein, bis ihr Arzt es ihr wegen ihres hohen Alters verbot, dann stieg sie auf Gymnastik um.

Ihren großen Tag feiert Ingeborg Irion im Kreise ihrer Kinder, Enkel und Urenkel – wo, weiß sie allerdings nicht: "Sie haben etwas vor, aber sagen mir nichts."

Für die Zukunft hat sie nur einen großen Wunsch: "Ich möchte noch mal heim." Die Heimat war für sie Marienbad und obwohl sie bekennt: "Ich fühle mich ehrlich gesagt sau wohl in Winterlingen", sehnt sie sich nach der Stadt zurück, aus der sie vor 70 Jahren vertrieben wurde.