Mammutwahl in Indien: Ein Sikh hält die Flagge der regierenden Kongresspartei empor Foto: dpa

Korruption, schwächelnde Wirtschaft, hohe Inflation – für die indische Regierung stehen die Chancen auf Wiederwahl nicht gut. Eines ist schon vor der Abstimmung klar: Es wird eine Wahl der Superlative.

Neu-Delhi - Indien bereitet sich auf die größte demokratische Wahl der Welt vor. Etwa 815 Millionen Menschen sind aufgerufen, eine neue Regierung auf dem Subkontinent zu bestimmen. Prognosen sind wegen des Wahlsystems und der vielfach unberechenbaren Wählerschaft schwer abzugeben. Daher hat im sternengläubigen Indien vor der Mega-Abstimmung eine besondere Berufsgruppe Hochkonjunktur: die Astrologen.

„Ihre Unsicherheit ist unser Kapital, ihre Niederlage ist unser Erfolg“, sagt Daivajna K. N. Somayaji, ein Astrologe, der zahlreiche Politiker in der Hauptstadt Delhi berät. Der 55-Jährige ist eine feste Adresse für ratsuchende Kandidaten. Horoskope für Politiker können zwischen 1000 und 10 000 Euro kosten. Für ständige Beratung im Wahlkampf wird wesentlich mehr verlangt.

Indische Politiker schrecken vor wenig zurück, wenn die Planeten es so wollen: Ein Kandidat aus dem Bundesstaat Bihar soll splitternackt einen Büffel gefüttert haben, um die Götter günstig zu stimmen. Einem anderen Aspiranten für einen der 543 Sitze im Nationalparlament in Neu-Delhi wurde von seinen Wahrsagern angeraten, sich mit Schuhen verprügeln zu lassen. Beide sollen die Wahl gewonnen haben – so zumindest die Legende.

Das scheint den nervösen Politikern aus allen Lagern genug Beweis, dass Astrologie keine Zeitverschwendung ist. Wegen der Größe des Landes und der Zahl der Einwohner wählt Indien in neun verschiedenen Etappen vom 7. April bis zum 12. Mai. Am 16. Mai werden die Stimmen ausgezählt.

Knapp ein Sechstel der Erdbevölkerung ist an der Abstimmung beteiligt. Damit ist es nicht nur die größte Wahlveranstaltung der Welt, sondern auch die größte von Menschenhand organisierte Veranstaltung überhaupt. Allein die Zahl der Erstwähler liegt bei 100 Millionen Menschen.

Indien verfährt nach dem britischen Wahlsystem: Der Sieger bekommt alles. Ein Kandidat muss erst seinen Wahlkreis gewinnen, um einen Sitz in der Volksvertretung zu ergattern. Wird er im Rennen um den Sitz nur Zweiter, geht er komplett leer aus. Dies macht den Ausgang der Abstimmung schwer kalkulierbar.

Die regierende Kongresspartei erscheint schwach und führerlos. Premierminister Manmohan Singh ist 81 und will keine weitere Amtszeit absolvieren. Er ist seit Mai 2004 Regierungschef. Rahul Gandhi ist die politische Hoffnung der Partei. Und der Erbe der politischen Gandhi-Dynastie, die Indien die längste Zeit in seiner Geschichte seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1947 regierte. Doch bislang konnte auch er nur wenig überzeugen. Der 43-jährige Sohn von Kongressparteichefin Sonia Gandhi und der Enkel von Ex-Premierministerin Indira Gandhi blieb farblos und ohne das Charisma seiner Familie.

Die Oppositionspartei Bharatiya Janata Party (BJP) schickt Narendra Modi ins Rennen. Der Hindu-Nationalist hat sich in seinem Heimatbundesstaat Gujarat als politisch kluger Kopf erwiesen und dort in den letzten zehn Jahren viel für die wirtschaftliche Entwicklung getan. Damit kann er in diesen Zeiten punkten, in denen Indiens Wirtschaft ins Stottern geraten ist. Die einst so dynamische Wirtschaft, die mit zweistelligen Wachstumsraten glänzte und ausländische Investoren magnetisch anzog, scheint ihren Zauber verloren zu haben. Inflation, hohe Lebensmittelpreise und politische Unsicherheit tragen zur wachsenden Unzufriedenheit bei. Modi, so glauben seine Anhänger, könnte das wieder richten.

Doch der 63-Jährige konnte bislang den „Geist von Gujarat“ nicht abschütteln: Gegner beschuldigen ihn, die brutalen Ausschreitungen zwischen Muslimen und Hindus 2002 in Gujarat nicht gestoppt zu haben, bei denen mehr als 1000 Menschen ums Leben kamen. In den USA ist Modi wegen seiner angeblichen Verstrickungen in das Gujarat-Pogrom immer noch Persona non grata und darf das Land nicht besuchen. Eine Wahl Modis könnte auch das Verhältnis zwischen den Atommächten Indien und Pakistan trüben. Gerade vor dem Hintergrund des Abzugs der Nato aus Afghanistan in diesem Jahr ringen die beiden verfeindeten Nachbarn um die Vorherrschaft in der Region.

Neben den beiden alteingesessenen politischen Parteien in Indien – Kongress und BJP – hat in den letzten Monaten eine neue Kraft von sich reden gemacht, die die politische Landschaft nachhaltig verändern könnte: die Aam Aadmi Party (AAP), übersetzt „die Partei des kleinen Mannes“. Sie wird von ihrem Gründer Arvind Kejriwal geleitet, der Ende 2013 das Wunder vollbracht hatte, die Kongress-Partei in der Landtagswahl von Neu-Delhi zu besiegen.

Die aus der Anti-Korruptions-Bewegung hervorgegangene Organisation könnte sowohl den Kongress als auch die BJP wichtige Stimmen kosten. Auch die schwierige Wirtschaftslage hat mit dem unerwarteten Erfolg der AAP zu tun. Ausländische Investoren scheinen die Geduld mit Indien verloren zu haben. Der ehemalige Star unter den aufsteigenden Wirtschaftsmächten wurde lange als das nächste China gehandelt. Doch inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Im letzten Jahr nahm die amerikanische Investmentbank Morgan Stanley Indien in die Ländergruppe der „Fragile Five“ („die gebrechlichen fünf“) auf – gemeinsam mit Brasilien, der Türkei, Südafrika und Indonesien. Der Finanzdienstleister argumentiert, dass diese Staaten zu sehr von den Launen ausländischer Investoren abhängig sind, um ein konstantes Wachstum aufzuweisen.

Die lahmende Wirtschaft des Gandhi-Landes kämpft mit einer schwachen Währung: Die indische Rupie verlor im vergangenen Jahr um die 20 Prozent an Wert gegenüber dem US-Dollar, die Inflationsrate liegt bei knapp zehn Prozent. Steigende Preise für Lebensmittel und Benzin belasten vor allem die ärmere Bevölkerung, aber auch den Mittelstand. Der Einkauf von Gemüse – von dem sich die Mehrheit der indischen Bevölkerung ernährt – hat sich zum vergangenen Jahr um 78,4 Prozent erhöht. Der Preis von Zwiebeln stieg um sagenhafte 278 Prozent. Für Tomaten musste der Verbraucher 122 Prozent mehr bezahlen als im Vorjahr.

Und durch die sich häufenden Berichte über Massenvergewaltigungen hat im letzten Jahr auch der Tourismus gelitten. Vor allem ausländische Urlauberinnen bleiben aus Furcht um ihre Sicherheit dem Land lieber fern. Neue Berichte, wonach Neu-Delhi inzwischen die weltweit giftigste Luft hat und die chinesische Metropole Peking in Sachen Luftverschmutzung vom ersten Platz verdrängt hat, tragen auch nicht dazu bei, mehr Besucher anzulocken.

Indiens Wahlen sind eine willkommene Gelegenheit, das Negativ-Image des Landes wieder aufzubessern. Anders als in den Nachbarländern Pakistan, Bangladesch und Afghanistan, verlaufen Abstimmungen hier relativ friedlich. Trotz des riesigen logistischen Aufwandes sind Manipulationen an den Wahlurnen selten. Allein vom Ablauf und der Organisation her dürfte die größte demokratische Übung der Welt ein Erfolg sein – auch ohne Blick in die Kristallkugel.