Bei der Darmspiegelung lassen sich Veränderungen in der Darmwand erkennen.   Foto: Mauritius

Darmkrebs ist die einzige Tumorart, die durch eine Vorsorgeuntersuchung von vornherein vermeidbar wäre. Für Männer wird eine noch frühere Untersuchung auf Kosten der gesetzlichen Krankenkasse diskutiert. Doch die Experten sind sich nicht einig.

Stuttgart - Die Darmspiegelung, auch Koloskopie genannt, kann eine mögliche Zeitbombe entschärfen, bevor sie explodieren kann: Denn etwaige Darmkrebsvorstufen, sogenannte fortgeschrittene Adenome, wie auch kleine Tumore können dabei nämlich entdeckt und sogleich entfernt werden. Und falls es doch schon Krebs ist, gilt auch hier: Die Heilungschancen sind umso besser, je früher der Tumor entdeckt wird.

Das seit 2002 bestehende Darmkrebsvorsorgeprogramm sieht daher vor, dass gesetzlich Krankenversicherte ab einem Alter von 50 Jahren Anspruch auf einen sogenannten Hämokkult-Test sowie ab 55 Jahren auf eine Darmspiegelung. Wer familiär bedingt ein erhöhtes Risiko hat, kann seinen Darm auch schon deutlich früher spiegeln lassen, mindestens zehn Jahre vor Auftreten eines Darmkrebses bei Vater oder Mutter. Bei unauffälligem Befund erfolgt die Darmspiegelung alle zehn Jahre (siehe Infokasten). Der Grund: Es dauert etwa zehn bis 15 Jahre, bis sich aus einem Risiko-Polypen am Stiel ein Darmkrebs entwickelt. Bei rasenartig wachsenden Adenomen ist diese Zeitspanne mit sechs bis sieben Jahre aber deutlich kürzer und damit die Zehn-Jahres-Spanne zu lang.

Mehr als vier Millionen Darmspiegelungen

„Im Rahmen des seit 2002 existierenden Darmkrebsvorsorgeprogramms wurden mehr als vier Millionen Darmspiegelungen durchgeführt und laut unseren Berechnungen 180 000 Krebsfälle verhindert“, erläutert der Epidemiologe und Präventionsexperte Hermann Brenner vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Und das, obwohl nur drei Prozent der Bevölkerung die Darmkrebsvorsorge nutzen. Könnte man alle Berechtigten zur Teilnahme an dieser Vorsorge teilzunehmen, ließen sich laut dem Internisten und Gastroenterologen Axel Dignaß, Chefarzt am Agaplesion Markus-Krankenhaus in Frankfurt rund 90 Prozent der Darmkrebserkrankungen vermeiden. Die Spiegelung findet vorhandene Polypen mit über 90-prozentiger Sicherheit.

Sollte vor diesem Hintergrund die Darmspiegelung zumindest bei Männern nicht bereits mit 50 Jahren erfolgen? „Tatsächlich sehen wir in der Klinik häufiger Patienten, die bereits unter 55 Jahren an Darmkrebs leiden“, bestätigt Dignaß. Eine gemeinsame Studie des DKFZ, der MEDI Baden-Württemberg, der AOK Baden-Württemberg und der Bosch BKK sollte Klarheit schaffen. Dabei erhielten 84 726 AOK-Versicherte im Alter zwischen 50 und 54 Jahren in den Jahren 2014 und 2015 eine Einladung zu einer Früherkennungs-Darmspiegelung. Nur 1,9 Prozent der angeschriebenen Personen hat diese Chance genutzt. Trotzdem waren die insgesamt 1396 Untersuchungen für eine Studie ausreichend.

Bei Männern war jede 12. Spiegelung verdächtig

Dabei wurden in insgesamt 6,8 Prozent der Fälle Darmkrebs oder Darmkrebsvorstufen entdeckt und abgetragen – bei den Frauen waren es 4,5 Prozent, bei den Männern dagegen mit 8,6 Prozent fast doppelt so viel. Anders ausgedrückt: Während bei den Frauen jede 22. Darmspiegelung einen Fund ergab, beförderte bei den Männern bereits jede 12. Darmspiegelung eine verdächtige Gewebeveränderung zu Tage. Für den Studienautor Brenner steht deshalb fest: „Damit sind Darmkrebs und seine Vorstufen bei Männer zwischen 50 und 54 Jahren sogar häufiger als bei den 55- bis 69-jährigen Frauen, bei denen die Darmspiegelung ganz selbstverständlich zum Krebsfrüherkennungsangebot gehört.“ Das sei ein überzeugender Grund dafür, die Altersgrenze für die Vorsorge-Koloskopie zumindest bei Männern schon vom 50. Geburtstag an routinemäßig anzubieten. In Österreich ist dies längst der Fall.

Manche Experten halten aber wenig davon, das Screening auf 50 Jahre vorzuverlegen. Grundsätzlich sei das Darmkrebsvorsorgeprogramm laut dem Bremer Gesundheitswissenschaftler Norbert Schmacke in der jetzigen Kombination von Stuhltest und Darmspiegelung bereits weiter fortgeschritten als in vielen anderen Ländern. In der Schweiz wurde erst dieses Jahr und in den Niederlanden vor drei Jahren eine Darmkrebsvorsorge eingeführt. „Zunächst wäre es wichtig, dass mehr Berechtigte ab 55 Jahren teilnehmen. Eine Teilnahmequote von drei Prozent bei einer Darmspiegelung ab 55 Jahre ist für eine effektive Vorsorgeuntersuchung enttäuschend niedrig“, sagt der Gastroenterologe Michael Bitzer vom Uniklinikum Tübingen.

Bessere Aufklärung nötig

Das sieht auch Norbert Schmacke so: „Die Menschen müssen besser aufgeklärt werden.“ In der Tat gibt es viele Vorbehalte und Ängste. Wer an Darmspiegelung denkt, assoziiert damit einen Tag lang dünne Brühe statt Steak, Darm reinigen, in kurzer Zeit viel eklig schmeckende Flüssigkeit trinken, einen Tag Urlaub für eine Untersuchung opfern. Kaum jemand überlegt, was mit Darmkrebs verknüpft sein kann, der im Laufe des Lebens drei bis fünf Prozent der Bundesbürger ereilt: Viele verschenkte Lebensjahre, zahlreiche Untersuchungen, mögliche Metastasen in Leber und Lunge, vielleicht sogar im Gehirn, Operationen, Chemotherapie, Haarausfall, unsäglich große Müdigkeit, Altern um viele Jahre in kurzer Zeit. Was ist schlimmer? Die Antwort dürfte da nicht schwer fallen.

Als Argument gegen eine Vorverlegung der Darmspiegelung werden mitunter etwaige Komplikationen angeführt. So kann es infolge der für den Dämmerschlaf verabreichten Medikamente zu Atemdepression und Kreislaufstillstand kommen. Nach der Polypenentfernung können Blutungen auftreten, die mit großem Blutverlust einhergehen können. Die Darmwand kann insbesondere dann, wenn große Polypen entfernt werden, durchstoßen werden. Bitzer und Dignaß ordnen diese Gefahren so ein: „Unterm Strich treten relativ selten Komplikationen bei dieser hochstandardisierten Untersuchung auf. Auf 1000 Darmspiegelungen kommen ein bis zwei Fälle.“ Strenge Hygienevorschriften minimieren zudem das Infektionsrisiko, zudem müssen Untersucher jährlich eine Mindestanzahl an Darmspiegelungen absolvieren.

Unabhängig davon, ob die Spiegelung künftig mit 50 oder 55 Jahren beginnt: Wer vor der persönlichen Entscheidung steht „Darmspiegelung ja oder nein?“ sollte daran denken „Darmkrebs ist gnadenlos“.

Veränderungen in der Darmwand

Polypen Darmpolypen sind Schleimhautvorwölbungen zumeist im Dickdarm, die aus der Schleimhaut ins Darminnere hineinragen. Sie entstehen, weil sich die Zellen an dieser Stelle stärker teilen als jene des Umgebungsgewebes.

Adenom Die häufigsten Polypen sind Adenome. Sie sind nicht automatisch bösartig, aber sie können entarten und gelten daher als Darmkrebsvorstufe.Das Adenom kann sich stark vergrößern und sogar die Darmwand durchdringen. Im fortgeschrittenen Stadium erreicht der Tumor die Blut- und Lymphbahn. Krebszellen, die sich vom Tumor absiedeln, können auf diesem Weg in andere Organe gelangen und Metastasen bilden.

Risiko Über 90 Prozent der Darmkrebse entstehen aus Adenomen. Daher ist das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, umso höher, je mehr Adenome sich im Dickdarm befinden und je größer sie sind.

Wiederholung Ergibt sich bei einer Darmspiegelung kein auffälliger Befund, wird eine erneute Untersuchung nach zehn Jahren empfohlen. Wird dagegen ein Polyp gefunden, sollte danach alle fünf Jahre, bei mehreren Polypen oder einem Polyp, der größer als ein Zentimeter ist, alle drei Jahre gespiegelt werden. Sind Zellen im Polyp auffällig verändert oder nicht sicher komplett entfernt, muss bereits nach drei bis sechs Monaten nachuntersucht werden.