Herbert Karrais erkundet die Welt am liebsten auf zwei Rädern / Mit 58 Jahren legt er erst richtig los

Von Anja Schmidt Villingendorf. "Er ist mit dem Fahrrad unterwegs. Das passt, gell?", sagte Doris Karrais lachend. Ja, das passt, und ebenso, dass ihr Mann viel länger durch die Gegend radelte, als seine Frau es bei der Kälte vermutet hatte. Herbert Karrais strotzt vor Vitalität. Bekommt man ihn dann doch zu Gesicht, mag man es kaum glauben: Der Villingendorfer ist bereits 74 Jahre alt. "Ich bin kerngesund und habe Sauerstoff ohne Ende", sagt er.

Herbert Karrais scheint das Fahrradfahren mit der Muttermilch aufgesogen zu haben. Kein Weg scheint ihm zu weit. Schon als junger Bub machte er sich gerne mit dem Rad auf den Weg, und mit 17 Jahren unternahm er seine erste Tour: Allein über die alte Passstraße hoch zum Gotthardt und wieder hinunter zum Vierwaldstättersee. "Ein wunderschönes Erlebnis", erzählt er. Die Straßen waren damals kaum befahren, und die Kehren so eng, dass schwere Lastwagen oft wieder zurücksetzen mussten. "Die habe ich alle überholt", berichtet er mit einem Schmunzeln, obwohl die haarigen Wege und sein schweres Gepäck ihn auch ab und an zum Gehen zwangen. "Mein Heiligtum" nennt der 74-Jährige noch heute sein damaliges Drei-Gang-Rad, von dem er sich lange Zeit nicht trennen konnte.

Derartige Touren sollten zur Erfüllung seines Lebenstraums werden, doch zunächst gründete Karrais eine Familie. Zwar radelte er immer noch fleißig durch die Gegend, "aber richtig los ging es erst mit 58 Jahren". Auf vier verschiedenen Rädern habe er seither gesessen und mit jedem fuhr er im Schnitt 30 000 Kilometer.

Seine Erzählungen faszinieren. Kaum ein Gebiet in Deutschland und in den Ländern entlang der Grenze scheint ihm unbekannt. Nie gerät er in Verlegenheit, erinnert sich ohne zu zögern an jeden Fluss, jeden Berg und jede Stadt. "Ich würde auch vergessen, aber ich bereite mich auf eine Tour immer sehr gut vor und halte alle Stationen und Erlebnisse in Bilder und Reisetagebüchern fest", erklärt er.

Karrais breitet das Sammelsurium vor sich aus. Seine Touren führen meist entlang von Flüssen, berichtet er. Nicht immer starte er in Villingendorf. Oft nehme er auch den Zug oder die Familie fahre ihn zu seinem Ausgangspunkt. In den zwei, drei Wochen, die er meist unterwegs ist, legt der rüstige Rentner um die 1000 Kilometer zurück. Und er bringt Geschichten mit. "Ich bin gerne stundenlang alleine, suche aber auch Kontakt, um die Menschen und ihre Gegend besser kennen zu lernen."

Einen besonderen Eindruck hinterließ das ehemalige Grenzgebiet im Osten Deutschlands. "Ich kam mir vor wie in Kanada." In Stunden sei ihm keine Menschenseele begegnet, und bei den Verhältnissen, die dort herrschten, fühlte er sich um Generationen zurückversetzt.

Eine Begegnung ganz anderer Art bescherte ihm eine Tour entlang des Rheins. Ein Mann schloss sich ihm an, erzählt er amüsiert, der sich später als Hausmeister des Bundestags (damals noch in Bonn) herausstellte. "Er lud mich zum Rundgang ein."

Wenn Karrais von den Landschaften erzählt, kommt er ins Schwärmen. Er sehe und erlebe Dinge, die kein Autofahrer je zu Gesicht bekomme. Er genieße die Natur, die Erlebnisse und die kulinarischen Köstlichkeiten der Regionen. "Deutschland ist einfach wunderschön." Umso bedauerlicher für ihn, dass die Natur hierzulande wenig geschätzt würde. Bei seinen Touren bemerke er oft den Unterschied zur Schweiz, wo die Umwelt weit mehr geachtet werde.

Um seine Sicherheit ist ihm derweil nicht bange. Sein Fahrrad schließe er nie ab, und lasse es oft mitsamt Gepäck einfach stehen. Eine Sorglosigkeit, die ihm einmal fast zum Verhängnis wurde. Wie gewohnt ließ er sein Fahrrad mitsamt Gepäck im dem Hamburger Hauptbahnhof zurück. Schon fast außer Reichweite hörte er aus dem Lautsprecher den Hinweis auf ein herrenloses Fahrrad. Er eilte zurück und dem Grenzschutz in die Arme, der in seinem Gepäck eine Bombe vermutete. "Wäre ich nur kurze Zeit später gekommen, wäre es teuer geworden."

Große Touren plant Karrais zwar nur einmal im Jahr. Mit dem Fahrrad ist er dennoch ständig unterwegs. Den Neckartalweg rauf und runter, nach Tuttlingen oder Aichhalden, "und immer verbunden mit einer Einkehr zu einem Stückchen Kuchen", sagt er schmunzelnd. Nie sei es ihm langweilig. "Die Schönheit der Natur genieße ich gerne mehrmals." Seine Frau gönne es ihm. "Komm, sitz aufs Fahrrad", sage sie, wenn er sehnsüchtig nach draußen blicke. Dafür sei er ihr dankbar.