Die Familie ist wieder vereint, die Erleichtung groß: Enkel Benjamin Staudenmeyer (von links) mit Harry und Helga Fiebrandt sowie Tochter Jenny Staudenmeyer freuen sich, dass der spontane Ausflug ein gutes Ende nahm. Foto: Eich

Wie Harry Fiebrandt mit einem spontanen Ausflug in den Norden eine Suchaktion auslöste.

Villingen-Schwenningen - Es ist eine schier unglaubliche Geschichte, die Harry Fiebrandt erzählen kann: Der 78-jährige fast blinde und gehbehinderte Rentner reiste innerhalb von 30 Stunden nach Hamburg und zurück – während er daheim in Villingen als vermisst galt.

Gemeinsam sitzt die Familie im Wohnzimmer des Ehepaars Fiebrand, die Hotelrechnung und das Bahnticket sind dabei Zeugnis einer Reise, die der ganzen Familie viele Nerven gekostet hat – über die man nun aber lachen kann. Denn Harry Fiebrandt sitzt zufrieden mit am Tisch und genießt zusammen mit einer Tasse Kaffee den Käsekuchen seiner Frau Helga.

Doch wie kam diese außergewöhnliche Reise in den hohen Norden an jenem Dienstag im Juni zustande? "Meine Frau musste vormittags zum Arzt nach Schwenningen und ich hab mich gefragt, was ich die nächsten drei oder vier Stunden mache", erzählt Fiebrandt, als wenn es um einen kleinen Ausflug ins Grüne geht. Er habe sich dann kurzfristig dazu entschlossen, "ein paar Sachen zu packen und abzuhauen".

Die Reise beginnt

Gesagt, getan. Direkt vor der Haustüre in der Hammerhalde in Villingen nahm der Rentner den Bus zum Bahnhof, stieg dann in einen Zug, der ihn nach Offenburg brachte. Dort nahm die Fernreise schließlich ihren Lauf. Fiebrandt: "Ich hatte Hamburg vor Augen."

Unterdessen wuchs die Besorgnis der Familie. "Ich war um 12 wieder mit meiner Mutter daheim, aber mein Vater war nicht dort", erinnert sich Tochter Jenny Staudenmeyer an den Zeitpunkt, als das Schicksal seinen Lauf nahm. Denn in den darauffolgenden Stunden brachten die Anrufe bei Diakonie, Klinikum und Bekannten sowie die Kontrolle von üblichen Einkaufsrouten und Einkaufsmöglichkeiten keinen Erfolg – die Familie schaltete gegen 15.30 Uhr die Polizei ein.

Ankunft in Hamburg

A ls die Suchaktion anlief, befand sich Fiebrandt bereits kurz vor Hamburg. "Ich hab mir im Zug eine Fahrkarte gekauft, beim Umsteigen in Kassel bekam ich Unterstützung." Gegen 17 Uhr stieg der Mann in der Hansestadt aus – hier endete seine Reise jedoch nicht. Stattdessen verschlug es den 78-Jährigen nach Hemmoor im Landkreis Cuxhaven (60 Kilometer Luftlinie von Hamburg entfernt) – hier verbrachte er zehn Jahre seines Lebens.

Die Sehnsucht in seine alte Heimat ließ ihn offenbar seine Gebrechen vergessen. "Ich wollte dorthin fahren, Nordluft schnuppern und schauen, was da so los ist. Es hat sich viel verändert." Zur Übernachtung musste Fiebrandt allerdings zehn Kilometer weiter in den 3500-Seelen-Ort Hechthausen. "Im Hemmoor gab es keine Möglichkeit, ein Taxifahrer hat sich dann nach einem freien Zimmer für mich erkundigt." Dort kam er aber erst gegen 23 Uhr an.

Unterdessen lief seit knapp sechs Stunden die Suchaktion in VS. Der Polizeihubschrauber war stundenlang im Einsatz, wenig später kamen Kräfte des DRK und der Malteser hinzu, zusätzlich wurden Rettungshundestaffeln alarmiert. Vom Vermissten fehlte weiter jede Spur.

"Irgendwann kam mir dann schon der Gedanke, dass er vielleicht Richtung Norden unterwegs ist", erzählt seine Frau, Helga Fiebrandt. Diese Information hat die 81-Jährige auch frühzeitig der Polizei weitergegeben. Da passt es ins Bild, dass einer der Spürhunde eine Fährte aufnahm, die am Bahnhof endete. Gegen 1 Uhr in der Nacht brachen die Rettungskräfte den Einsatz ab.

Kein Telefonat erlaubt

Vier Stunden später war Harry Fiebrandt schon wieder auf den Beinen, später stärkte er sich beim Frühstück für die Heimreise. Am Abend zuvor schlug der Versuch, mit den Verwandten Kontakt aufzunehmen, fehl. "Ich wollte im Hotel ein Ferngespräch in die Heimat führen, das hatte man mir aber nicht erlaubt." Eine Entscheidung, die für die Verwandten eine schlaflose Nacht zur Folge hatte. Staudenmeyer: "Wir haben uns abgewechselt, damit immer jemand bei meiner Mutter ist – das waren die schlimmsten Stunden, die wir je hatten."

Nach dem Auschecken im Hotel nahm der ausgebüchste Rentner schließlich wieder ein Taxi zum Bahnhof in Hammoor, von dort aus ging es zurück nach Hamburg. Um exakt 12.24 Uhr, knapp 24 Stunden nach seinem Verschwinden, stieg er dort in den Zug Richtung Baden-Baden.

Erneuter Alarm

Derweil machte man sich daheim weiter Gedanken über den Verbleib von Fiebrandt. "Wir haben die Hoffnung nie aufgegeben", erinnert sich auch Enkel Benjamin zurück, aber die Ungewissheit sei furchtbar gewesen. Ein Hinweis, der Vermisste sei in Unterkirnach gesehen worden, sorgte am Mittwoch um 18.30 Uhr für eine erneute Alarmierung von Rettungshundestaffeln und Suchmannschaften. Rund eine halbe Stunde später stieg der 78-Jährige in Offenburg in den Regioexpress nach Villingen. Noch während die Einsatzleitung Suchgebiete absteckte, meldete sich eine Zugbegleiterin, die dem Vermissten aufgrund der Einschränkungen half, bei der Familie und berichtete, wann der Rentner in VS eintreffen wird. Etwas ungläubig machte sich die Verwandtschaft auf den Weg zum Bahnhof – nahm den Vermissten dann aber überglücklich um 20.06 Uhr in dem Arm. "Die haben erzählt, dass man mich gesucht hat – ich konnte das fast nicht glauben." Nach einem kurzen Check im Klinikum kam Fiebrandt nach Hause – und berichtete der erleichterten Familie von der außergewöhnlichen Reise.

"Hattest Du überhaupt genug Geld dabei?", will Jenny Staudenmeyer noch wissen und erhält prompt die Antwort: "Natürlich, ich bin doch nicht bescheuert!" Der Tochter ist es aber insbesondere ein Anliegen, das Engagement der vielen Helfer hervorzuheben: "Die Anteilnahme war toll, es ist uns ein Bedürfnis, uns bei allen zu bedanken." Und wo geht der nächste Ausflug hin? "Nirgends, das hat mir gereicht", sagt Fiebrandt, nimmt sich noch ein Stück Kuchen und ergänzt: "Vor allem, nachdem ich gehört habe, was hier alles los war."

Info

Dank der Familie an die Helfer

"Im Namen aller Familienangehörigen möchten wir uns bei allen Helfern des Einsatzes recht herzlich bedanken. Es waren Erfahrungswerte, auf die wir gerne verzichtet hätten. Gelernt daraus haben wir allerdings, dass es Profis gibt (berufliche und freiwillige), die ihr Handwerk verstehen. Wir waren erstaunt, mit welcher Routine und Ruhe die Aktion abgelaufen ist.

Ganz besonders zu erwähnen ist die Tatsache, dass die Aktion nicht nach "Schema F" abgelaufen ist. Die Damen und Herren waren sehr einfühlsam, hatten immer beruhigende Worte parat und hielten uns ständig auf dem Laufenden.

Im Angesicht der Situation war dies für uns, insbesondere für unsere Mutter beziehungweise Oma, sehr hilfreich. Es ist klasse, dass man in seiner Not und Verzweiflung auf Menschen trifft, wie wir sie treffen durften."