Jörn Leonhard beleuchtet Geschichte und Auswirkungen des Ersten Weltkrieges

Villingen-Schwenningen. Über die Vorgeschichte, Geschichte und Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs, behandelt in dem umfassenden Buch "Die Büchse der Pandora", sprach Wolfgang Nies vom Südwestfunk mit dem Autor Jörn Leonhard. Mit geschickten Fragen, die große Kenntnisse verrieten, lenkte Nies das Gespräch, in dem der Autor auf äußerst fesselnde Weise zu geschichtlichen Fragen Stellung nahm.

Die gewaltigen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts hatten in Gesellschaft, Wirtschaft, Kommunikation und Verkehr zu Migration und widersprüchlichen Problemen geführt, die aber keineswegs zwangsläufig in einen Krieg münden mussten. Schlafwandler waren die Politiker nicht – aber leichtfertig vergaben Russland an Serbien, Deutschland an Österreich und England an Frankreich Blankoschecks; dadurch entglitt den Politikern die Kontrolle über das Militär, wobei die größte Verantwortung bei Deutschland lag. Man bemühte sich nicht ausreichend um Deeskalation in der Krise, es gab keine funktionierende Abschreckung.

Oft wird behauptet, die Völker seien 1914 begeistert in den Krieg gezogen – doch das war nur bei einem Teil des Bürgertums so, Arbeiter und Bauern erlebten den Kriegsausbruch mit Angst und Entsetzen, Begeisterungsbilder waren häufig manipuliert. Die Militärs, ausgebildet in Kriegstechniken vergangener Zeiten, konnten sich Siege von Maschinen über Menschen nicht vorstellen, ihre Pläne stellten sich schnell als realitätsfern heraus. Von Jahr zu Jahr entwickelte der Krieg immer schrecklichere Eigendynamik. Das gilt nicht nur für die Materialschlachten bei Verdun und in Flandern – noch verlustreicher waren die Kämpfe in Galizien. Aber in den neu entstehenden Staaten Ostmitteleuropas erinnern nur wenige Denkmäler an die Opfer, die der Kampf für untergehende Systeme forderte.

Ein Ende des Krieges lässt sich nur für Westeuropa auf den November 1918 datieren – der russische Bürgerkrieg und Kämpfe um die Nachfolge des osmanischen Reichs dauerten bis zum Anfang der 20er-Jahre, im Nahen Osten sind die Auswirkungen noch heute spürbar.

Gab es Sieger? Frankreich beklagte zwei Millionen Tore, sein Kolonial-Imperium war erschüttert, das von England auch. Polen feierte seine Auferstehung als Staat. Deutschland, das noch im Frühjahr 1918 seinen Sieg nahe geglaubt hatte, wollte die Niederlage nicht wahr haben, verzweifelte an der ungeliebten Demokratie und ließ sich unter Mithilfe des greisen Feldmarschalls Hindenburg in die Diktatur führen.

Ungeheuer fesselnd breitete Jörn Leonhard die gewaltigen und teils neuen Erkenntnisse aus, die er in seinem Buch zusammengetragen hat. Dabei schildert er nicht nur die Welt von Politik, Wirtschaft und Militär – er zeigt auch mit lebendigen Anekdoten, wie die einfachen Menschen in den verschiedenen Ländern das grausame Kriegsgeschehen erlebten.

Etwa 60 Hörer waren von dem bewegenden Gespräch tief beeindruckt, half es doch, die selbst durchlittene deutsche Geschichte, aber auch die moderne Welt in anderen Erdteilen besser zu verstehen.