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Nicht nur Hauseigentümer reagieren verunsichert. Schikane in Kommunen. Perfide Strategie geht auf.

Villingen-Schwenningen - Da hört für viele Baden-Württemberger der Spaß auf, wenn es um das Eigenheim geht. Verängstigte Bürger rufen bei Vermessungsämtern der Kommunen an und fragen nach "Mutterrollen". Das Gespenst einer angeblichen Enteignung durch den Staat geht um. Die "Reichsbürger" sind mit ihrer Ideologie in den Städten und Gemeinden angekommen. Diese kippen nicht nur in Internetforen ihre Ideen aus und schüren Verunsicherung. Die "Reichsbürger"-Szene bringt auch zunehmend Unruhe in Verwaltungen und Behörden.

Die Mutterrolle

Ulrich Götz kann so schnell nichts aus der Ruhe bringen. Doch was der langjährige Leiter des Vermessungsamtes in Villingen-Schwenningen kürzlich erlebte, war für ihn und den Leiter der Grundbucheinsichtsstelle Neuland: "Verunsicherte und verängstigte Bürger riefen uns an, weil sie eine Enteignung ihrer Häuser fürchten." Zum ersten Mal wurden die beiden städtischen Mitarbeiter mit Begriffen konfrontiert, die sie nie zuvor gehört hatten. Durch fast alle Telefonate geisterte der Begriff der "Mutterrolle".

Diese, so entnahmen sie, sollte die städtische Behörde herausgeben. Bei Nachfragen erfuhren Götz und sein Team, dass ihre Gesprächspartner alle eine Grundangst umtrieb: "Wenn wir diese Unterlagen nicht besorgen , dann sind wir bald unsere Häuser los." Und der Staat habe guten Grund für die Enteignung, treibt die "Reichsbürger"-Szene ihre Enteignungs-Hysterie auf die Spitze: Dann gebe es den dringend benötigten Wohnraum für die vielen Flüchtlinge im Land.

Der Hintergrund für den erzeugten Hype: Durch die Abdankung des deutschen Kaisers im Jahr 1918 sollen 99 Jahre später alle Grundstücke in Erbrecht fallen, und damit an die Europäische Union. Nur über die Mutterrolle, die über Jahrzehnte oder Jahrhunderte, Eigentümer festhalte, könne man sich vor Besitzlosigkeit schützen: "Es geht darum, in der Bevölkerung Ängste zu schüren und das Vertrauen in den Staat aufzuweichen."

"Reichsbürger" behaupten grundsätzlich, dass die Bundesrepublik Deutschland eigentlich ein Unternehmen namens "BRD GmbH" sei. "Reichsbürger" werden sie deshalb genannt, weil sie die Existenz der Bundesrepublik als souveränen Staat leugnen, dafür aber den Fortbestand des Deutschen Reiches zumeist in den Grenzen von 1937 behaupten.

Albstadt erste Zielscheibe

Was Götz und andere Verwaltungsmitarbeiter erleben, ist ein bundesweites Phänomen und hat auch den Städtetag Baden-Württemberg bereits zu einer umfangreichen Stellungnahme veranlasst: In dem Schreiben geht es vornehmlich um den Umgang mit sogenannten "Reichsbürgern". Anlass ist nicht nur die steigende Anzahl von solchen Anhängern in Baden-Württemberg (die zweithöchste in der Bundesrepublik).

Für Aufsehen sorgen diese vor allem durch Aktionen gegen die öffentliche Verwaltung und die Justiz. Norbert Brugger, Dezernent des Städtetags Baden-Württemberg, musste erst selbst recherchieren, als er vor gut zwei Jahren zum ersten Mal mit dem Begriff konfrontiert wurde: "Das hat mir im ersten Moment gar nichts gesagt." Er erinnert sich noch gut an den ersten Fall im Land: Ziel war die Stadtverwaltung Albstadt, Vorzimmer des OB. Ein "Reichsbürger" platzt herein und möchte ein Dokument beglaubigt haben, das der Referent nicht beglaubigen kann. Es kommt zu Beleidigungen, aggressiven Bemerkungen, dann zu Handgreiflichkeiten, erinnert sich der Hauptamtsleiter. Erst alarmierte Polizeibeamte können dem Spuk im Rathaus ein Ende bereiten.

Auch Brugger beobachtet seit knapp einem Jahr eine deutliche Zunahme an Aktivitäten durch die Szene. Mitarbeiter von Kommunen werden beleidigt, mit "unsinnigen Aufgaben" torpediert. So sollen diese beispielsweise "Reichsführerscheine" beglaubigen. Alles mit dem Ziel, letztendlich Unruhe in Verwaltungen zu bringen und diese auch ein Stück weit lahmzulegen, lautet Bruggers Fazit.

Der Aktionsreigen lässt sich noch weiterführen: "Reichsbürger" verweigern Bußgeldbescheide, weigern sich, Steuern zu zahlen, drehen den Spieß um, fordern ihrerseits von Kommunen Geld ein und verstricken Verwaltungsmitarbeiter in bizarre Diskussionen. Das alles, so Brugger, "hat deutlich zugenommen".

Das Landeskriminalamt

Der Blick auf die "Reichsbürger"-Szene wird auch beim Landeskriminalamt intensiver. "Da gibt es einiges an Einzeldelikten", berichtet Horst Haug, Leiter der LKA-Pressestelle. Vornehmlich handle es sich um Beleidigungen, doch auch wegen Erpressungsversuchen, Widerstandshandlungen oder Körperverletzungen müssen sich "Reichsbürger" mittlerweile verantworten. Vorsichtig geschätzt, liege die Zahl der Anhänger bei etwa 650 im Land. Tendenz steigend.

Für Haug ist die Szene eine völlig inhomogene Gruppe, unter die sich auch sogenannte Germaniten oder Selbstverwalter mischen, teils auch mit rechtsesoterischer Ausrichtung: "Doch alle haben den gleichen ideologischen Hintergrund."

Der Verfassungsschutz

Das Bild und der Blickwinkel haben sich um 180 Grad gedreht, nicht nur bei den Polizeibehörden im Land, sondern vor allem auch bei den Verfassungsschützern. Diese beobachten eine zunehmende Radikalisierung der Gruppe. Früher, so hieß es aus der Pressestelle des Verfassungsschutzes Baden-Württemberg, sei nur ein kleiner Teil der "Reichsbürger" rechtsextremistisch und damit unter Beobachtung gewesen. "Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg hat bis zum Herbst 2016 lediglich diejenigen "Reichsbürger"-Gruppierungen beobachtet, bei denen konkrete Anhaltspunkte für Rechtsextremismus vorgelegen haben. "Erst seit Ende November nehmen die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern das Gesamtspektrum in den Blick", reagiert Ilker Vidinlioglu, Pressesprecher des Amtes für Verfassungsschutz in Stuttgart, auf Anfrage. Dabei steht das Landesamt im intensiven Austausch mit den Verfassungsschutzbehörden anderer Bundesländer und mit Verwaltung, Polizei und Justiz in Baden-Württemberg.

Viel kann man in Stuttgart noch nicht über die Gruppe sagen: Derzeit befinde sich die umfassende Beobachtung der "Reichsbürger"-Szene noch im Anfangsstadium. "Wir haben noch zu wenig Informationen", meint er.

Wenn es um profundes Wissen geht, wird immer wieder ein Name genannt, der von Michael Hüllen. Hüllen, beim Verfassungsschutz Brandenburg tätig, gilt als bundesweit bester Kenner der "Reichsbürger"-Gruppierung. Er kennt das strategische Spiel der Szene wie kaum ein anderer. Was spielt sich in den Köpfen der Anhänger ab? Wie spult sich deren Argumentationskette ab? Zum einen, so Hüllen, werden schiere Behauptungen in die Welt gesetzt, die keinen Glaubwürdigkeitstest bestehen würden. Oder aber, rechtliche Passagen werden aus dem Zusammenhang gerissen, entscheidende Teile weggelassen, um daraus eine "Reichsbürger"-Geschichte zu machen.

So komme es dann zu Behauptungen, denen zufolge Deutschland kein souveräner Staat und in Wirklichkeit eine GmbH sei und Deutschland seit der Abdankung des Kaisers 1918 keine gültige Verfassung mehr habe: "Das sind Thesen und Weltanschauungen, die tief im Rechtsextremismus fußen." Bundesweit, klärt Hüllen auf, sei die Gruppe seit 1986 aktiv, verstärkt treten sie in den vergangenen Jahren auf. Die politischen Thesen der Bewegung werden überlagert durch "esoterisches Gedankengut" und "antisemitische Muster". Dies, so Hüllen, habe schon fast "sektenartige Züge".

Für Hüllen ist nicht nur der Thesen-Katalog erschreckend sowie die voranschreitende Regionalisierung der "Reichsbürger". "Ihre Anhänger sind nicht mehr für Argumente erreichbar." Die allermeisten entfernen sich von dem, was in ihrer früheren Identität einmal wichtig und kostbar war: Partner, Kinder, Freunde, Liebe. Diese Menschen finden ihre "Freunde" in entsprechenden Foren, fühlen sich dort bestätigt, leben in einer Parallelwelt. "Zurückzuholen sind die wenigsten", lautet Hüllens Fazit aus bitteren Beobachtungen.