Die Mitglieder des Vereins "Pro Stolpersteine VS" (links Dieter Brandes, rechts Friedrich Engelke) gedenken im Muslenzentrum behinderten Menschen, die Opfer des nationalsozialistischen Regimes wurden. Foto: Heinig Foto: Schwarzwälder-Bote

Mahnwache: Auch Schwenninger zählen im Nationalsozialismus zu Opfern der Tötungsanstalt Grafenau / Zeitzeuge erinnert sich

Von Birgit Heinig

Anna-Maria Schlenker und Joseph Münzer standen bei der 35. Mahnwache des Vereins "Pro Stolpersteine VS" im Mittelpunkt des Gedenkens.

VS-Schwenningen. Aufgrund des stürmischen Regens fand diese nicht wie sonst auf dem Muslenplatz, sondern im Foyer des Muslenzentrums statt. Die in diesem Winter dritte Mahnwache auf Schwenninger Gemarkung befasste sich mit den Opfern des nationalsozialistischen Regimes, die aufgrund einer körperlichen oder geistigen Behinderung oder ihrer seelischen Verfassung für "nicht lebenswert" erklärt und getötet wurden.

Friedrich Engelke und Dieter Brandes hatten zwei Schicksale herausgesucht und sich dabei neben eigenen Recherchen der Forschungsergebnisse von Michael F. Zimmermann bedient. Was den verherrlichenden Namen "Euthanasie" trug – "schöner Tod" – wurde in der Tötungsanstalt Grafeneck bei Münsingen 1940 bei 10 654 Menschen durch Gas vollstreckt.

Anna-Maria Schlenker war eine davon. Sie wird 1892 als fünftes von später sechs Kindern geboren. Die Mutter stirbt früh, die älteste Schwester führt den Haushalt in der Sturmbühlstraße 52. Als 29-Jährige zeigt Anna-Maria erstmals "psychische Auffälligkeiten", der Hausarzt empfiehlt die Einweisung in die Heilanstalt Rottenmünster. Dort wird eine "vorzeitige Demenz" diagnostiziert. Regelmäßig erhält sie Besuch von ihrer Familie. Darunter auch ihr Neffe Kurt Schlenker. Der heute 96-Jährige lebt in Schwenningen und nahm am Sonntag an der Mahnwache teil. Er erinnert sich daran, dass vor jedem Besuch der Tante für sie ein Gugelhupf gebacken wurde. Anna-Maria Schlenker wird nach Weissenau bei Ravensburg verlegt, weil der Leiter des Rottenmünsters – ein erklärter Gegner der Euthanasie – die Meldebögen für die "NS-Euthanasie-Aktion T4" nicht ausfüllt.

In Weissenau hat man damit kein Problem und liefert 1939 die geforderten Daten von 600 Patienten nach Berlin. Am 28. August 1940 wird Anna-Maria Schlenker zusammen mit 74 weiteren Menschen mit geistiger Behinderung im Zuge "planwirtschaftlicher Maßnahmen" in drei Bussen nach Grafeneck gebracht und noch am gleichen Tag vergast. Die Familie erhält den "Trostbrief" erst drei Monate später – mit einer fingierten "natürlichen" Todesursache und einem gefälschten Sterbedatum.

Joseph Münster wird 1907 in Villingen geboren. Schulerfolge wollen sich nicht einstellen und er hat epileptische Anfälle. 1918 wird Münzer in die St. Josephsanstalt für Epilepsie in Herten bei Lörrach eingewiesen und 1922 als gesund entlassen. Schulabschluss und Lehre folgen, dann aber Arbeitslosigkeit und Vagabundieren. 1935 weist ihn die städtische Fürsorge Villingen in die Heilanstalt "Kork" bei Kehl ein. Er wird – ebenfalls aus "planwirtschaftlichen" Gründen – nach Stetten im Remstal verlegt, flüchtet, wird wieder aufgegriffen.

Am 8. November 1940 wird Joseph Münzer im Alter von 33 Jahren nach Grafeneck gebracht und ermordet. Im Trostbrief an seine Mutter steht: "Zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Sohn Josef infolge einer Lungenentzündung verstorben ist. Bei seiner unheilbaren Erkrankung bedeutet sein Tod Erlösung für ihn".

Am Ende der Mahnwache, die Gundula Awotula und Anna-Marie Baumann musikalisch begleiteten, ergriff der Zeitzeuge Kurt Schlenker das Wort: "Ich schäme mich für die Schuld meiner Generation", sagte er und dankte insbesondere all jenen, die sich heute um kranke, alte und behinderte Menschen kümmern. "Anderen zu helfen – das ist ein Kulturgut unseres menschlichen Lebens", so der 96-Jährige.