Hoch konzentriert tätowiert Thomas Neugart seiner Kundin Ingrid Valgoi ein Blumenmuster auf den Oberarm. Fotos: Cools Foto: Schwarzwälder-Bote

Körperkunst: Thomas und Claus Neugart tätowieren seit etlichen Jahren und räumen mit Klischees auf

Das Surren der Nadel klingt wie der Bohrer eines Zahnarztes. Angsterfüllt weiten sich die Augen der Kundin, die wie auf dem Seziertisch aufgebahrt da liegt. Dann senkt sich die Nadel unbarmherzig auf die rosige Haut und durchdringt sie mit einem schmerzhaften Stich, begleitet vom unablässigen Wimmern der Frau.

Horrorszenarien wie diese sind beim Thema Tattoos gang und gäbe. Umso überraschender war die harmonische Atmosphäre im Tattoo- und Ethnoshop Neugart. Aber wie sollte man auch bei der Lässigkeit, die die Brüder Claus und Thomas Neugart ausstrahlen, beunruhigt sein? "Schmerz empfindet jeder anders. Manche Kunden schlafen oder lachen sogar beim Tättowieren", weiß Claus. Während sein Bruder seit mehr als 25 Jahren tättowiert, macht er es seit sieben Jahren von Hand, seit zwei mit der Maschine.

Gelernt hat er die Körperverzierung in Workshops, durch den Austausch mit Kollegen und durch viele Versuche – unter anderem an sich selbst. Davon nimmt er inzwischen Abstand. "Da fehlt mir der Ehrgeiz und es dauert einfach länger. Da lasse ich lieber Kollegen ran", erzählt er. Und die hat er wirklich eifrig werkeln lassen.

Mit 19 Jahren bekam er sein erstes Tattoo. Mittlerweile ist er 44 und sein Körper über und über bedeckt von den gestochenen Kunstwerken. "Ich sage immer: Wer noch zählen kann, ist nicht tätowiert", lacht Claus. Er sehe seinen Körper eher als eine große Tättowierung, die noch nicht vollendet sei. Am liebsten mag er Blackwork und polynesische Tattoos – schwarz, komplex, urtümlich mit ineinander übergehenden Formen.

Sein größtes Tattoo geht von der Hüfte bis zum Knie. 48 Stunden hat es gedauert und sich über Jahre gezogen, berichtet Claus. "Angefangen hab ich auf Tahiti, dann ging es in Samoa weiter, in Berlin, Mailand und weiteren Orten", zählt er auf. Bei seinen Reisen nehme er traditionelle Tattoos als Souvenir auf dem Körper mit.

Manche Reisen hätte er sogar nur gemacht, um sich Werke von berühmten Tättowierern stechen zu lassen. So vereint er sämtliche traditionelle Stilrichtungen auf sich: von Hawaii über Tahiti, Neuseeland, Samoa, Thailand und Japan bis nach Borneo und zu den Haida-Indianern in Nordamerika. Nur noch sein Rücken und sein linkes Bein sind frei: "Wieso sollte ich mich an einer Stelle tätowieren, die ich nicht sehe?", lautet seine Begründung. Schließlich seien die Tattoos für ihn selbst.

Für eine Sucht hält er Tattoos aber nicht. "Wenn man sich einmal überwunden hat, dann ist die Hemmschwelle niedriger", erklärt er, warum es oft nicht bei einem Tattoo bleibt. Bei seinen eigenen gefallen ihm noch alle. "Ich hätte sie nur eventuell besser planen sollen."

Tattoos müssen für ihn immer eine Bedeutung haben. Deshalb ist ihm wichtig zu betonen, dass das Studio der Neugarts kein Modeshop sei. Von Trends rate er eher ab. "Und Leute, die nicht wissen, was sie wollen, tätowiere ich nicht", sagt er knallhart. Ebenso wenig 18-Jährige, die ihr erstes Tattoo auf den Hals wollen und nicht einmal eine Lehrstelle haben. Zwar seien Tätowierungen inzwischen akzeptierter, blöd angesehen würde man teilweise aber trotzdem noch.

Zurzeit würden 3-D-Tattoos sowie hyperrealistische Bilder in den Medien breitgetreten. Bei diesen sei aber das Ergebnis sowie die Haltbarkeit eher fragwürdig. Auch Dotwork liegt im Trend. Thomas und Claus ist es dabei wichtig, unter Berücksichtigung der Tradition etwas Individuelles zu stechen, das sie von den Mitbewerbern abhebt. Neben den kunstvollen Motiven gibt es auch verrückte Wünsche der Kunden, beispielsweise eine Bierflasche auf ein Hinterteil oder das Bickentor auf den Oberschenkel. Auch regionale Motive wie der Narro und das Wappen des FC 08 Villingen seien beliebt. Die größte Herausforderung an der Kunst an sich sei aber, dass das Tattoo auch nach zehn Jahren noch gut aussehe, meint Claus.

Er selbst hat eigentlich eine Ausbildung zum Telekommunikationstechniker absolviert. Jetzt erinnert nur noch ein tätowiertes Telefon auf seinem Arm an die Zeit. Es ist Teil eines Lebenslaufs, der sich über den Arm zieht. Da sieht man eine Piercingzange und ein Skalpell – früher hat Claus ausschließlich gepierct. Sonst probiert er sich auch gern an außergewöhnlichen Projekten. So hat er sich beispielsweise einen Silikonstern unter die Haut am Arm implantiert. Auch einen Zungensplit, Brandings und weitere Arten der Körpermodifikation hat er schon vorgenommen.

Ingrid Valgoi ist Kundin bei den Neugarts und vertraut ihnen in Sachen Körperkultur voll und ganz. Die 48-jährige Villingerin lässt sich im Tattoo- und Ethnoshop ein Blumenmuster auf den Arm tätowieren. Sie trägt bereits ein Frettchen – nach dem Vorbild ihrer Haustiere. Ihr Mann hat auch eins. Was aus der Blume wird, da lässt sie sich überraschen. "Die Tätowierer haben die besseren Ideen", meint sie. Und als Thomas Neugart die Nadel senkt, verzieht sie keine Miene. Der Schmerz halte sich in Grenzen. Es überwiegt die Freude, die sie empfindet, als sie ein wenig später einen Blick auf die Blume wirft, die sie fortan für den Rest ihres Lebens begleiten wird.