Im Nordirak sind die Jesiden in Scharen vor den IS-Schergen geflohen. Wer in ihre Hände fiel, den erwarteten Tod, Vergewaltigung oder Versklavung. Foto: Pampiliega

IS-Terroristen verschleppen Mädchen auf dem Weg zum Bäcker. Psychotherapeut nimmt an Projekt der Landesregierung teil.

Villingen-Schwenningen - Die Elfjährige sollte Brot vom Bäcker holen. "Plötzlich waren die IS-Terroristen dort und haben sie mitgenommen", schildert Jan Ilhan Kizilhan. "Eine Stunde lang saß sie vor mir und hat mir richtige Horrorgeschichten erzählt."

Der Psychotherapeut und Orientologe untersucht in der Nähe der Stadt Dohuk im Irak traumatisierte Frauen, Jugendliche und Kinder, die aus Geiselhaft der Terrormilizen des Islamischen Staates (IS) entkommen sind. "Traumatisiert sind alle". sagt er. "Aber es bringt nichts, Leute hierherzuholen, denen wir nicht helfen können." Kizilhan arbeitet in einem Ärzteteam im Auftrag eines Projekts der baden-württembergischen Landesregierung: Bis zum Jahresende sollen 1000 schwer traumatisierte Frauen und Kinder zur Behandlung in den Südwesten gebracht werden. Junge Frauen und Kinder, die besonders schutzbedürftig sind. Es sind vor allem Jesiden, aber auch Christen. 25 sind schon hier, schon bald sollen weitere 100 kommen.

Die Elfjährige, die Brot vom Bäcker holen sollte, ist dabei. Drei Monate war sie in der Gewalt der IS-Terroristen, wurde brutal von mehreren Männern vergewaltigt, missbraucht und verkauft, bevor sie fliehen konnte. "Mit Achtjährigen fangen sie an. Sie werden vergewaltigt, versklavt, entmenschlicht", sagt Kizilhan, der selbst schon in der Türkei Interviews mit vielen IS-Terroristen geführt hat. "Das ist so deren Überzeugung: Ungläubige können von den Terroristen des Islamischen Staates in Besitz genommen werden, und mit ihnen kann alles gemacht werden." Die weitgehend in Freiheit aufgewachsenen Kinder seien nach dem Erlebten "völlig schockiert", hätten das Urvertrauen in die Menschheit nicht mehr. "Sie fühlen sich nicht sicher in der Umwelt, haben zum Beispiel Angst, wenn ihnen jemand entgegenkommt."

So wie die Elfjährige. "Sie ist völlig verstört und hofft trotzdem, dass man ihr irgendwie hilft", schildert der Leiter des Studiengangs "Soziale Arbeit mit psychisch Kranken und Suchtkranken" an der Fakultät für Sozialwesen der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Schwenningen. Er sitzt auf gepackten Koffern. Zu 50 Prozent ist er abgeordnet von der Hochschule für das Hilfsprojekt, pendelt zwischen dem Irak und seinem Wohnort Villingen-Schwenningen. Angst hat er nicht. "Ich kenne das Land und die Region, ich kenne den Irak und Kurdistan", sagt er. Im Irak arbeitet er in einem Büro, das sich in einem Haus – und nicht etwa in einem Zelt – befindet. Die Frauen werden aus dem Camp geholt und nach den psychologischen und medizinischen Untersuchungen wieder dorthin gebracht.

Der in der Türkei geborene Kizilhan spricht die Sprachen der Region, Arabisch, Kurdisch und Türkisch. Er selbst ist in der Tradition einer altiranischen Religion aufgewachsen: Zarathustra. Dort habe Licht ebenso eine wichtige Bedeutung wie bei den Jesiden. "Ich fühle mich hier sicher, weil ich die Gegend kenne" bekräftigt der 48-jährige Traumatologe. Das Projekt der Landesregierung sei "ein gutes, humanitäres Projekt, eine notwendige und wichtige Arbeit". 30 Millionen Euro sind im Landeshaushalt dafür eingestellt. Nach zwei Jahren können die Menschen entscheiden, ob sie in Deutschland bleiben wollen.

Täglich führt Kizilhan im Irak zehn bis 15 Gespräche mit Opfern der Terroristen. 50 bis 60 der Frauen stammen aus dem kleinen Dorf Kocho. Dessen Einwohner waren zunächst bedroht worden, sie würden getötet, wenn sie nicht zum Islam konvertierten. "Dann wurde ihnen gesagt, wenn sie Steuern zahlten, passiere ihnen nichts. Sie gaben alle Wertsachen ab, wurden in ein Gebäude gebracht, Männer und Frauen getrennt. Dann wurden alle 413 Männer mitgenommen und erschossen. Die Frauen sind versklavt worden."

Ein Mädchen aus diesem Dorf habe nach einigen Monaten durch ein Fenster fliehen können. Es war der vierte Fluchtversuch. Es wurde dann von einer arabischen Familie aufgenommen und konnte seinen Bruder in Deutschland anrufen. Dieser konnte das Kind von der Familie freikaufen. "Sehr häufig rufen die Familien aber dann die IS-Terroristen an", berichtet er. Die Frauen würden oft weiterverkauft, zu Preisen zwischen 200 und 5000 Dollar, manchmal nach Saudi-Arabien oder Tunesien.

Die meisten der Opfer, die nach Baden-Württemberg kommen, sind zwischen 16 und 17 Jahren alt. Die Altersspanne reicht von zwölf bis 24 Jahren. Aber es sind auch Kinder dabei. "Wenn die Mutter in Gefangenschaft war, werden wir die Familie nicht trennen." Und er erzählt von einer Mutter, deren zehnjähriger Sohn zum Kindersoldat ausgebildet wurde, während sie mit den kleineren Kindern fliehen konnte. Im Camp wurde die Familie wieder vereint.

Die Helfer sind zur Verschwiegenheit verpflichtet

Die Flucht gelingt manchmal, wenn in der Region Kämpfe sind und die Terroristen an die Front eilen. So konnte die Elfjährige mit einer Gruppe fliehen, war sechs Tage zu Fuß unterwegs und aß Gras, bevor die kurdischen Peschmerga sie fanden. Oder die Mutter, die mit ansehen musste, wie ihr Ehemann und die beiden Söhne erschossen wurde, bevor sie verschleppt wurde. "Sie kriegt dieses Bild nicht aus dem Kopf", sagt Kizilhan. "Wir können bewirken, dass die Leute Kontrolle über die Erinnerung haben, dass sie wieder einkaufen, Deutsch lernen oder zur Schule gehen können. Das ist möglich durch die Therapie."

Die Flüchtlinge werden auf Kommunen verteilt, die sich bereit erklärt haben, sie aufzunehmen. Kirchen helfen bei der Unterbringung. Die Helfer sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Je jünger die Menschen seien, desto höher die Chancen, dass Heilung und Integration gelingen. Kizilhan glaubt, dass 90 Prozent derjenigen, die im Rahmen des Projektes hierher kommen, in Deutschland völlig integriert werden. Vor allem Schule wirke wie eine Psychotherapie. "Die wollen zur Schule, sie fragen, ob es in Deutschland eine Schule gibt."

Der Elfjährigen gibt er in Deutschland besonders gute Chancen. "Am Anfang wird sie Stress haben, weil sie Deutsch lernen muss, aber sie weiß, sie ist hier sicher."