Die Inklusion behinderter Schüler ist für viele Regelschulen eine personelle und bauliche Herausforderung. Foto: Hollemann

Kluft zwischen Wunsch und Realität: "Fall Henri" wird auch kritisch betrachtet. Für Regelschulen personelle Herausforderung.

Villingen-Schwenningen - Der Fall des geistig behinderten Henri aus Walldorf (Rhein-Neckar-Kreis), dem der Besuch einer weiterführenden Regelschule versagt wird, schlägt hohe Wellen in den Medien. Jetzt äußern sich auch Rektoren und Elternvertreter aus VS sowie das Staatliche Schulamt Donaueschingen zum Thema.

Erst vor wenigen Tagen hat Kultusminister Andreas Stoch (SPD) entschieden: Weder die Realschule noch das Gymnasium in Walldorf müssen den elfjährigen Henri, der am Down-Syndrom leidet, aufnehmen. Die beiden Schulen hatten zuvor einen entsprechenden Antrag von Henris Eltern mit der Begründung abgelehnt, sie hätten keine ausreichenden Rahmenbedingungen, um das Kind bestmöglich zu fördern.

Wie berechtigt ist die Forderung der Eltern, ihren behinderten Sohn auf ein Gymnasium schicken zu wollen, damit er bei seinen Freunden bleiben kann, obwohl sie wissen, dass er niemals das Abitur schaffen wird? Gibt es Grenzen der Inklusion?

Michael Fraas, Rektor der Carl-Orff-Schule in Villingen, findet den Inklusionsgedanken notwendig und ist dankbar für die Diskussion, die der Fall Henri ins Rollen gebracht hat. Die Konsequenzen, die sich aus den Forderungen von Henris Eltern ergäben, seien wegweisend, nicht nur für das Schulsystem, ist Fraas überzeugt, und fragt: "Wollen wir Inklusion um der Inklusion willen, oder möchten wir den inklusiven Gedanken in die Gesellschaft hineintragen und das Bewusstsein der Menschen schärfen, eventuell verändern?"

Hier gehe es um sehr viel mehr als um ein Einzelschicksal, argumentiert der Rektor der Sonderschule. Generell ist er der Meinung, dass eine Klassengemeinschaft "unbedingt" von einem behinderten Mitschüler profitiere.

Dieses Modell gibt es bereits, auch in VS: Laut Günter Herz, leitender Direktor des Staatlichen Schulamts Donaueschingen, werden derzeit 14 geistig behinderte Schüler an verschiedenen Grundschulen in Villingen-Schwenningen unterrichtet – entweder in Einzelinklusion oder in sogenannten "Außenklassen", also indem sie gemeinsam mit anderen behinderten Mitschülern eine Klasse an einer Regelschule besuchen, die stark mit den anderen Klassen kooperiert. Die Erfahrungen vonseiten der Eltern und Lehrer werden, so Herz, "überwiegend positiv bewertet", und auch die Mitschüler profitierten voneinander.

Es gibt auch kritische Stimmen

Alles kein Problem also? Nicht ganz, denn es gibt auch kritische Stimmen zu dem Thema. Rainer Beha etwa, geschäftsführender Rektor der Grund-, Haupt-, Real- und Sonderschulen in Villingen-Schwenningen, kann die Forderung von Henris Eltern zwar "menschlich nachvollziehen", wie er sagt. Dennoch: "Am Gymnasium liegt der Schwerpunkt auf der kognitiven Leistung", betont Beha. "Entscheidend ist also nicht das ›Entweder-Oder‹, sondern es geht sowohl um kognitive als auch um soziale Inklusion." Beides dürfe man nicht trennen. Und: "Als Lehrer weiß ich, dass wir nicht alle Ansprüche gleichermaßen erfüllen können", sagt der Rektor der Karl-Brachat-Realschule in Villingen.

Die Schulen seien mit ihrem Bildungsauftrag dazu verpflichtet, allen Schülern gerecht zu werden. Und für die inklusive Beschulung seien die Regelschulen – auch diejenigen in Villingen-Schwenningen – im Moment nicht ausreichend genug gerüstet.

Bei den Gymnasien sieht es ähnlich aus: "Keines der drei städtischen Gymnasien ist derzeit auf einen solchen Fall vorbereitet, weder personell noch baulich", sagt Manfred Koschek, geschäftsführender Direktor der Gymnasien in Villingen-Schwenningen.

Er selbst sei auf jeden Fall für Inklusion und für die Wahlfreiheit der Eltern, betont Koschek. Die Absicht von Henris Eltern jedoch sieht er, ähnlich wie Beha, kritisch: "Die Zeit am Gymnasium dauert im Extremfall acht Jahre, und gruppendynamische Beziehungen ändern sich fortlaufend. Wenn das Hauptargument Inklusion im sozialen Sinn ist, also, dass das Kind nicht von seinen Freunden getrennt wird, finde ich es bedenklich."

Für Marianne Winkler, Leiterin der Christy-Brown-Schule in Villingen, ist, genau wie für Fraas, Inklusion grundlegend für unsere Gesellschaft. Dennoch rät sie von einer Verallgemeinerung ab. Manche Kinder seien in einer Regelschule gut aufgehoben, für andere sei das überaus differenzierte qualitative (Bildungs-)Angebot und der geschützte Raum einer Förderschule das Beste: "Das sehen auch viele Experten und Eltern so." Auf Kosten des Kindes, so die Pädagogin weiter, dürfen solche Entscheidungen nicht fallen. Wenn Lernvoraussetzungen nicht gegeben seien, könne dies schnell zu einer Ausgrenzung führen.

Ganz ähnlich argumentiert auch Karin Kohnle-Özdag, Vorsitzende des Gesamtelternbeirates in VS: "Eine Verallgemeinerung ist sicherlich nicht der richtige Weg. Das ist individuell und von Kind zu Kind sehr verschieden." Kritik wird auch laut an Eltern, die trotz anderslautender Empfehlungen und Bedenken mit dem Kopf durch die Wand gegehen wollen. "Damit ist letztendlich allen geschadet."

Mit der Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat Deutschland sich 2009 dazu verpflichtet, die Chancengleichheit behinderter Menschen in der Gesellschaft zu fördern. Damit sollen auch Kinder, die aufgrund einer Behinderung bislang eine Sonderschule besuchten, nicht länger ausgegrenzt werden. Gegenwärtig wird Inklusion in Baden-Württemberg an sogenannten Modellschulen erprobt. In zwei Jahren könnte sie an allen Schulen im Land möglich werden: Hierzu strebt die grün-rote Landesregierung ein Gesetz an.