Mithilfe von Strohballen wurde die Granate kontrolliert gesprengt. Foto: Eich

Wäre Handgranate explodiert, hätte es Tote geben können. Doch nicht jeder in VS ist überrascht. Mit Video

Villingen-Schwenningen - Mitten in der Nacht wird eine scharfe Handgranate auf das Gelände eines Flüchtlingsheims in Villingen-Schwenningen geworfen. Der Sprengsatz explodiert nicht, niemand wird verletzt. Doch es herrscht Entsetzen – aber nicht alle sind überrascht.

Die Frau auf der Straße ist schockiert. "Ich kann das gar nicht glauben", sagt sie. "Eine Handgranate? Hier in unserer Stadt?" Die Frau, die ihren Namen nicht sagen will, steht in einer Seitenstraße in Villingen-Schwenningen, nur wenige hundert Meter von der betroffenen Asylbewerberunterkunft entfernt. Die Polizei hat die Straßen weiträumig abgesperrt, außer den rot-weißen Bändern, den zahlreichen Beamten und ganz vereinzelt Experten in weißen Schutzanzügen deutet nichts darauf hin, was hier passiert ist.

Wurfgeschoss mit 100 Gramm TNT gefüllt

Es ist 1.15 Uhr, als drei Securityangestellte in der Nacht zuvor Geräusche auf dem Asphalt hören. Sie schauen nach – und finden eine Handgranate. Um 1.29 Uhr wird die Polizei alarmiert, fünf Minuten später ist der erste Streifenwagen vor Ort. Das Landeskriminalamt (LKA) in Stuttgart wird involviert. Von dort wird Verstärkung angefordert – vor allem Sprengstoffexperten.

Die Handgranate liegt derweil im Freien. Keiner weiß, ob das Teil nicht doch noch explodiert. Die Experten untersuchen das Wurfgeschoss. Es ist mit 100 Gramm TNT gefüllt und damit hochexplosiv. Unklar ist, ob die Granate auch einen Zünder hat.

Um 3.25 Uhr entscheiden die Experten, die Handgranate, Modell M 52, kontrolliert zu sprengen. Zwölf Anwohner werden evakuiert. Die Handgranate, an der eine Zündladung angebracht wird, ist unter einem großen Strohballen begraben. Die kontrollierte Zündung erfolgt um 5.08 Uhr. Danach nimmt die Spurensicherung ihre Arbeit wieder auf, die Ereignisse werden rekonstruiert. Es wird vermutet, dass der Unbekannte die Granate in die Einfahrt zwischen zwei Häuser der Bedarfsorientierten Aufnahmestelle (Bea) warf. Wahrscheinlich prallte das Geschoss jedoch an einem Schutzzaun ab. Dieser versperrt die Zufahrt auf das Gelände und wird nur im Bedarfsfall, beim An- oder Abfahren, geöffnet. So kann kontrolliert werden, wer sich alles auf dem weitläufigen Gelände befindet.

"Solche Aktionen spalten unsere Gesellschaft"

Hinter einem dieser Häuser hat das Securitypersonal einen Aufenthaltscontainer. Wäre die Handgranate explodiert, als man den verdächtigen Geräuschen nachging, dann hätte es Tote gegeben. Andreas Stenger vom Kriminaltechnischen Institut des LKA: In einem Radius von 20 Metern sind die Geschosssplitter der Stahlummantelung tödlich.

Am Morgen danach sind kaum Menschen auf der Straße zu sehen. "Erbsenlachen" heiße die Ecke in der Stadt mit rund 84 000 Einwohnern, nur zehn Gehminuten vom Zentrum entfernt. Er wundere sich nicht über den Anschlag, sagt ein Anwohner in einer Nachbarstraße. Unzufriedenheit und Ärger über die Flüchtlingskrise stiegen in der Bevölkerung, aber die Politik unternehme nichts dagegen. "Keiner macht was", sagt der Mann. In seinem Viertel in Villingen-Schwenningen seien die Flüchtlinge in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in Bussen angekommen, niemand sei vorher darüber informiert worden, sagt der Mann. "Wir haben nicht gewusst, wie viele kommen. Wie lange bleiben sie, woher kommen sie?"

Inzwischen habe sich das Zusammenleben aber eingespielt, es gebe keine größeren Reibereien zwischen Anwohnern und Asylbewerbern. "Wir müssen ja alle miteinander klarkommen", sagt der Mann.

Nur ein paar Meter weiter laufen Ahmad und sein Freund Ghadi an einer der Unterkünfte vorbei. Die Sonne scheint, und die beiden Flüchtlinge wollen ein bisschen frische Luft schnappen. Sie sind seit fast zwei Monaten in Villingen-Schwenningen. "Aber heute Nacht haben wir gar nichts mitbekommen", sagt der Syrer auf Englisch. "Wir wissen nur, dass es ein Problem gegeben hat. Mehr nicht." Machen sie sich Sorgen? "Nein", sagt Ahmad. "Die Polizei ist ja da."

Währenddessen ist eine 75-köpfige Sonderkommission "Container" zusammengestellt worden, der neben der Polizei auch das LKA und der Verfassungsschutz angehören. Letzteres lässt aufhorchen, denn wenige Tage zuvor gab es in der Nachbarstadt St. Georgen eine Razzia. Ein mutmaßlicher Rädelsführer der rechten Szene wurde festgenommen. Abends folgte ein Protestmarsch in Villingen von rund 20 Gleichgesinnten gegen die Festnahme. Ein Zusammenhang wurde von den leitenden Beamten gestern als Spekulation betitelt. Es werde in alle Richtungen ermittelt.

Politiker aus der Region verurteilten den Anschlag. Regierungspräsidentin Bärbel Schäfer, Landrat Sven Hinterseh und Villingen-Schwenningens Oberbürgermeister Rupert Kubon gaben eine gemeinsame Erklärung heraus: "Wir sind entsetzt und verurteilen jede Form von Gewalt, die sich gegen die Flüchtlinge, aber auch gegen die Mitarbeiter in unseren Unterkünften richtet."

Eine gemeinsame Stellungnahme gaben auch die CDU Europa-, Bundestag- und Landtagsabgeordneten Andreas Schwab, Thorsten Frei und Karl Rombach ab. "Wir erachten die Wirkung als verheerend, denn sie erschwert einen konstruktiven Umgang mit den Flüchtlingsherausforderungen. Solche Aktionen aber spalten unsere Gesellschaft, verkomplizieren einen ohnehin schon schwierigen Prozess und erschweren einen rationalen und zugleich humanitären Umgang mit den bestehenden Problemen zusätzlich."

Landtagsabgeordneter Niko Reith (FDP) nannte den Anschlag eine unerträgliche Eskalation und sieht es ähnlich wie die CDU-Kollegen. "Die aufgeheizte Stimmung, die zu feigen Anschlägen wie in Villingen ermutigt, ist nicht zuletzt das Ergebnis einer nur noch emotional geführten Auseinandersetzung, der jede Sachlichkeit abhanden gekommen ist." Auch der DGB zeigt sich fassungslos: "Die Angst, die damit bei den Flüchtenden hier bei uns aufs Neue geschürt wird, ist grausam und entwürdigend."

Info: Handgranate M 52

Das Modell M 52 ist aus dem Balkankrieg bekannt, vor allem dort wurde es eingesetzt. Wie alle Handgranaten verfügt es über einen Sicherungssplint, über einen Bügel und einen Metallkörper. Zunächst wird der Splint gezogen und der Bügel fliegt weg. Bis zur Explosion besteht eine Zeitverzögerung von vier Sekunden, bis der Detonator zündet. Die Metallummantelung des Sprengstoffkerns ist mit eingefrästen Rillen versehen. Diese Rillen führen dazu, dass die Granate bei einer Explosion in viele kleine Stücke auseinanderreißt – es entsteht eine Splitterwirkung. Diese Splitter haben eine Geschwindigkeit von bis zu 1300 Meter pro Sekunde, in einem Radius von bis zu 20 Metern absolut tödlich. Im Villinger Fall hätten diese Metallsplitter jedoch auf jeden Fall die Wände des Aufenthaltscontainers durchschlagen. Wäre die Handgranate also explodiert und die drei Securitymitarbeiter wären im Container gewesen, hätte es Verletzte gegeben. Bei einer Explosion der Handgranate hätte es sogar Tote gegeben, wenn Personen in dem genannten Radius gestanden wären. Nach dem Zünder suchen Kriminaltechniker übrigens noch.