Es hat vier Jahrzehnte gedauert. Dann wurden sie endlich ein Paar. Ingrid und Karl Barufka. Es ist die Geschichte einer Liebe, die ein Verein erst möglich machte: der VfB Stuttgart
Stuttgart - Der Apfelkuchen bleibt stehen, der Kaffee wird kalt. Es gibt ja so viel zu erzählen: von Karl Barufka, der 1999 verstorbenen VfB-Legende, und von ihr: dem Mädchen aus der Esslinger Pliensauvorstadt. Es ist, als sei das alles erst gestern gewesen. Ingrid Barufka (75) kichert und sagt: „Ich war total in Kalli verschossen.“
Es ist eine Geschichte vom Krieg und von den Jahren danach. Sie erzählt von dürren Zeiten, in denen die Menschen noch mehr Freunde in der Not waren als Rivalen in Zeiten des Überflusses. Und vom VfB Stuttgart, der kraft seiner Erfolge einer Region jene Zuversicht einflößte, die alles ein wenig erträglicher machte.
Als stünde der rote Brustring symbolisch für Unzertrennliches, für Sehnsucht und ewige Liebe, zieht er sich so beständig durch das Leben zweier Menschen, als sei es seit jeher sein vornehmster Zweck gewesen zusammenzufügen, was zusammengehört. Nur vier Jahre waren Ingrid und Kalli Barufka als Ehepaar vergönnt – vier Jahre, auf die sie vier Jahrzehnte lang warten mussten. Auf ihre Liebe in der Nachspielzeit.
Die „blauen Jungs“ in Esslingen
Ingrid Barufka nimmt ein Bild von der Wand: Weihnachten 1941, ihr Vater, ihr Bruder, sie als Baby auf dem Schoß ihrer Mutter. Von rechts blickt ein schneidiger junger Mann ins Bild. Groß, blond, stattlich und in Marineuniform: der 20-jährige Karl Barufka, mitten im Krieg. Weil die Turn- und Sportfreunde Esslingen ein freundschaftliches Verhältnis zur Mannschaft der Marine-Kicker aus Wilhelmshaven pflegten, reisten die „blauen Jungs“ immer mal wieder zum Testspiel in den Süden. Karl Barufka wohnte dann bei den Fischers, genoss die Gastfreundschaft und den Schweinebraten mit Spätzle. Und wenn spätabends Karl Fischer, bei den TSF als Funktionär in Amt und Würden, noch einen Trollinger ins Henkel-Gläschen goss, dann gehörten Fachsimpeleien über den Fußball zum guten Ton.
Streng genommen war Kalli Barufka schon damals ein Profi – in einer Sportkompanie der Marine. „Ich habe nie ein Kriegsschiff gesehen“, erzählte er später. Und er war schon so was wie ein Star. Zwischen 1939 und 1940 hatte er 16-mal das Trikot des FC Schalke 04 getragen, neben Fritz Szepan und Ernst Kuzorra, den Helden des Schalker Kreisels. Ein Kurzpassspiel, das die Fachwelt heutzutage wohl Tiki-Taka nennt. Kalli Barufka lebte damals seinen Traum. Als kleiner Junge hatte er sich mit einer kleinen Schwindelei in die Jugendmannschaft der Knappen geschlichen. Er war erst sieben, behauptete aber neun Jahre alt zu sein. Das Mindestalter fürs Juniorenteam.
Auch die Kickers lockten
Nach dem Krieg nahmen ihn die Fischers wieder auf. Das Verhältnis zu seinen streng gläubigen Eltern war ohnehin nie das beste, der Ruhrpott ein Trümmerfeld. Barufka, der Königsblaue, wäre fast bei den Stuttgarter Kickers gelandet. Fritz Walter, der VfB-Präsident, hörte von dem Linksfuß mit dem strammen Schuss. Er lockte ihn zu den Roten, die ab und an zu Freundschaftsspielen aufs Land ausschwärmten. Als Gage gab es ein paar Säcke Kartoffeln, Gemüse, Wurst, manchmal ein Schwein zum Schlachten. Wenn es die Zeit noch erlaubte, schob Barufka zufrieden lächelnd einen Kinderwagen am Neckarufer entlang. Darin saß die kleine Ingrid und strahlte. Doch es gab etwas, was den jungen Sportsfreund bedrückte.
Er hatte es seinem Marinekameraden versprochen. „Kalli“, hatte er gefleht, „wenn ich diesen Krieg nicht überleb’, dann kümmer’ dich um mein Mädchen.“ Kalli nickte. Er heiratete die junge Belgierin Alfonsine mit dem Kind, das seinen Vater auf dem Schlachtfeld verloren hatte. Barufka zog zu ihnen nach Pforzheim, kickte 1949 sogar kurze Zeit für den 1. FC. Aber Fritz Walter ließ nicht locker: „Du gehörscht doch zum VfB!“ Und irgendwie gehörte er auch noch immer zu den Fischers.
Wie man heute weiß, war es nicht die schlechteste Symbiose. Mit dem VfB Stuttgart feierte der linke Außenläufer die deutsche Meisterschaft 1950 (2:1 gegen Kickers Offenbach) und 1952 (3:2 gegen 1. FC Saarbrücken), zwei Jahre später kehrte die Mannschaft von Trainer Georg „Schorsch“ Wurzer mit dem DFB-Pokal aus Ludwigshafen zurück (1:0 n.V. gegen den 1. FC Köln).
Wer in den goldenen Fünfzigern dabei war, erzählt bis heute mit begeisterter Stimme und funkelnden Augen. Und wenn sie dann die Namen der „stählernen Achse“ aus Robert Schlienz, Richard Retter und Karl Barufka aneinanderreihen, dann klingt es, als sei es die schönste Partitur, die der Stuttgarter Fußball je geschrieben hat. Sie hatten Gänsehaut, als der Autokorso mit den siegestrunkenen Meisterspielern das Meer aus jubelnden Menschen teilte. Und es keimte in ihnen das Gefühl, dass es auch nach einer Zeit voller Schmerz und Schrecken wieder eine lebenswerte Zukunft geben könnte. Die kleine Ingrid von den Fischers stand am Bahnsteig des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Mit einem Blumenstrauß, weiß-rot wie der VfB und fast so groß wie sie selbst. Sie drückte ihn Barufka in die Arme. Vor Bewunderung fehlten ihr die Worte.
Vor dem Spiel eine Reval ohne Filter
Mag sein, dass sich schon damals das Band zwischen ihnen festigte, das all die Jahre überdauerte. Beide lebten ihr Leben, verloren einander aber nie ganz aus den Augen. Ohne den Fischers Karl, hieß es, wird beim VfB nicht angepfiffen. Und wenn Kalli Barufka vor dem Spiel vor dem Eingang noch schnell eine Reval ohne Filter rauchte, stand Ingrid meist hüstelnd dabei und himmelte ihn an. „Dann nahm er mich mit ins Stadion“, erzählt sie und lacht: „Umsonst!“
1950 gehörte Barufka zur Nationalmannschaft, die vor über 100 000 Menschen in Stuttgart das erste Länderspiel nach dem Krieg gegen die Schweiz (1:0) austrug. Fünf Jahre später und nach drei Länderspielen und 211 Einsätzen für den VfB, musste er seine Karriere beenden – der Meniskus.
Er eröffnete ein Weinlokal, gegenüber dem Cannstatter Bahnhof. Was gut für Barufka, war nicht ganz so gut für den VfB. Aus dem Hinterausgang führte der Weg unbemerkt in die Concordia-Bar nebenan, wo so ziemlich alles zu haben war, was ein Berufsfußballer meiden sollte. Franz Seybold, VfB-Trainer in den 60er Jahren, soll so manchen Delinquenten nächtens mit der Hand am Genick aus der Lokalität geführt haben. Barufka versuchte es noch als Teilhaber eines Busunternehmens, verdiente dann seinen Lebensunterhalt als Verkäufer bei Hertie in Böblingen. Erst Sportartikel, dann Glas- und Haushaltswaren, 22 Jahre lang. Reich ist der Junge aus dem Kohlenpott nie geworden, aber sein Leben war alles andere als arm. „Und dafür ist er zeitlebens dankbar gewesen“, sagt Ingrid Barufka.
Ihr Kalli war immer für einen Spaß zu haben. Manchmal fuhren er und seine Spießgesellen zu acht in einem klapprigen VW ins Remstal. In die Weinstube des alten VfB-Fans Otto Merz. Und wie man sich erzählt, haben sie dort in seltensten Fällen nur Wasser getrunken. Trainer Schorsch Wurzer stellte zeitweise sogar den Teamkollegen Rolf Blessing als Aufpasser für Barufka ab – mit mäßigem Erfolg. Am Ende rauchten sie beide ihre Selbstgedrehten. Einen naseweisen Reporter aus München narrte Barufka mit der Nachricht: „Wissen Sie, dass die Frau unseres Präsidenten kurz vor der Entbindung steht?“ Er musste zum Rapport. Fritz Walter soll sich für den Spaß nur bedingt begeistert haben.
Aber das Leben verschonte Barufka nicht mit den dunklen Seiten. Als 1991 seine Frau an Krebs starb, kümmerte sich seine Freundin aus Jugendtagen um ihn. „Er war am Boden zerstört und schon krank“, erinnert sich Ingrid Barufka. Zwei Jahre später zogen sie zusammen. Sie trennte sich von ihrem Mann, 1995 heiratete sie ihre große Liebe. Sie dreht behutsam den Ehrenring vom VfB Stuttgart zwischen den Fingern. „Gold mit Brillant“, sagt sie, „den haben nur drei Spieler bekommen.“ Dann wischt sie sich verschämt eine Träne aus dem Augenwinkel. Knapp vier Jahre sind ihnen als Ehepaar noch geblieben. Intensive Jahre, voller Zuneigung, aber auch geprägt von seiner Krankheit: Lungenemphysem.
Die alten Kumpels
Immerhin, er traf auf der Haupttribüne beim VfB noch mal seine alten Kumpels: Leo Kronenbitter, Richard Steimle, Hans Eisele, Walter Bühler, Rolf Blessing und Robert Schlienz. Aber er brauchte schon Sauerstoff, die Lunge versagte zunehmend ihre Dienste. Im April 1999 starb Kalli Barufka.
Seine Ingrid, seine späte Liebe, hält das Andenken wach. An einen großen Fußballer und liebenswerten Menschen. Sie hat Kartons mit Bergen von Fotos sortiert, sein Leben nachgezeichnet, Alben zusammengestellt und Schätze der Erinnerung bewahrt. Manches davon übergab sie ans VfB-Archiv. Regelmäßig bittet sie zum Witwenstammtisch, wo die Frauen von ihren Männern, vom VfB und den großen Zeiten erzählen. Es sind Gespräche mit therapeutischer Wirkung.
Ingrid Barufka atmet tief und seufzt: „Kalli war die Liebe meines Lebens.“ Dann sagt sie in die berührende Stille des Augenblicks: „Ich denke jeden Tag an ihn.“