Mit ihrer 15-minütigen Rede im Landtag bewegt Nadia Murad viele Abgeordnete Foto: dpa

Als Flüchtling kam Nadia Murad im September 2015 nach Baden-Württemberg. Im Landtag bedankte sich die UN-Sonderbotschafterin für die Unterstützung für Jesidinnen.

Stuttgart - sind im Landtag die Ausnahme. Ganz anders am Donnerstag. „Sie alle haben sich für die Menschlichkeit entschieden“, dankt Nadia Murad den Abgeordneten und Regierungsmitgliedern, die sich vor der Planardebatte zu einer Sonderveranstaltung eingefunden haben. „Sie haben nicht nur unser Leben gerettet, sondern auch unserer Stimmen.“

Die 23-Jährige Jesidin, die sich in ihrer Muttersprache Kurmanci, einer kurdischen Sprache, an die Landespolitiker wendet, hat ein wechselvolles Leben hinter sich. Noch vor zwei Jahren sei sie ein glückliches Mädchen voller Träume gewesen, erzählt sie. Damals lebte sie in einer großen Familie und mit Freunden in Kocho im Nordirak. Doch im Sommer 2014 überfielen Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates den Ort. Sie töteten die Männer und verschleppten Frauen und Kinder nach Mossul, vergewaltigten und verkauften sie. In den Augen der Islamisten sind die Jesiden – eine religiöse Minderheit – Ungläubige, die vernichtet werden müssen.

Täter sollen vor internationale Gerichte

Nadia Murad verlor ihre Mutter und ihre Brüder. Ihr und einigen anderen gelang es, sich zu befreien. Vor 15 Monaten fand sie zusammen mit etwa 1000 anderen Frauen und Kindern Zuflucht in Baden-Württemberg. Der Landtag hatte 2014 beschlossen, traumatisierte Frauen und Kinder aus dem Nordirak nach Deutschland zu holen, um ihnen hier Schutz und Therapie zu bieten. Die Jesidinnen sind auf rund 20 Kommunen landesweit verteilt. Die Standorte werden geheimgehalten, um die Frauen vor möglichen IS-Sympathisanten zu schützen. Nadia Murad und auch andere haben sich zum Ziel gesetzt, ihre Peiniger eines Tages vor internationale Gerichte zu bringen. „Dabei geht es um Gerechtigkeit, nicht um Rache“, sagt sie. Mit ihrem Engagement will sie aber auch Jugendliche in Europa aufrütteln und davor bewahren, sich islamistischen Ideologen anschließen.

„Heute stehe ich vor Ihnen als Frau, die die islamistischen Kämpfer nicht zerstören konnten“, sagt Murad mit klarer Stimme. Im September dieses Jahres haben die Vereinten Nationen die zierliche Frau zur UN-Sonderbotschafterin für die Würde der Opfer von Menschenhandel ernannt. Seitdem ist sie viel unterwegs – in den USA und Kanada, aber auch in arabischen Ländern, um auf den Völkermord an den Jesiden aufmerksam zu machen. Muslime und ihre staatlichen und religiösen Führer müssten sich öffentlich gegen Extremismus, Terrorismus und Gewalt aussprechen und alle anderen Religionen, Ethnien und Nationalitäten akzeptieren, fordert sie.

Noch immer hält der IS 3400 Jesidinnen gefangen

Zugleich ist Murad eine Botschafterin für Baden-Württemberg. „Ihre Landesregierung ist die erste weltweit, die solch ein humanitäres Projekt durchgeführt hat: Bitte nehmen Sie den Dank aller Geretteten.“ Über die Großzügigkeit des Landes spreche bei all ihren Reisen.

Unumstritten war die Unterstützung nicht. Die AfD wollte kürzlich von der Landesregierung wissen, ob sie nicht viel mehr Jesidinnen hätte helfen können, wenn sie Geld in den Irak geschickt hätte, statt Frauen nach Deutschland zu holen. Nach der Rede erheben sich auch die anwesenden AfD-Abgeordneten, um Murad Respekt zu zollen.

In ihrer früheren Heimat gebe es derzeit keine Sicherheit für die Jesidinnen, sagt Murad. Noch immer seien 3400 Frauen in der Hand des IS, nur wenige schafften es, sich selbst zu befreien. Solange dort religiöse Minderheiten um ihr Leben fürchten müssten, suchten sie Zuflucht in Europa.

„Sie haben Schreckliches erlebt und engste Angehörige verloren“, sagt Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne). „Aber Sie haben sich nicht brechen lassen, sondern als junge Überlebende die Stimme erhoben, um gegen Gewalt, Menschenhandel und Völkermord zu protestieren.“ Immer mehr Frauen folgten ihrem Beispiel. Begleitet wurde Murad von zwei jungen Frauen, die ebenfalls fliehen mussten: Lamiya Baschar, die kürzlich mit Murad den Sacharov-Menschenrechtspreis des Europäischen Parlaments erhielt, und Farida Khalaf, die ein Buch über Gefangenschaft und Flucht verfasst hat. „Nicht wir haben unsere Ehe verloren, sondern die islamistischen Kämpfer und ihre Freunde haben ihre Ehre verloren“, sagt Murad.