Der türkischstämmige deutsche Regisseur Fatih Akin hat Wolfgang Herrndorfs Bestseller „Tschick“ kongenial verfilmt. Foto: Studiocanal

Einen Bucherfolg wie Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ gibt es nicht alle Tage. Der Regisseur Fatih Akin hat den von vielen Lesern geliebten Roman jetzt verfilmt. Im Interview erzählt er, wie es dazu kam, was er über den Flop seines vorigen Films denkt, und wie er die Lage in der Türkei sieht.

Stuttgart - – Wenn von Lesern innig geliebte Bücher zum Film werden sollen, ist Vorsicht angesagt. Jeder Zuschauer will vor allem seine ganz eigene Lesart auf der Leinwand wiederfinden. Fatih Akin hat sich davon bei der Verfilmung von „Tschick“ aber nicht einschüchtern lassen. Im Gespräch erzählt er, wie er überhaupt zu dem Projekt kam, was er über den Flop des Vorgängers „The Cut“ denkt, der den Völkermord an den Armeniern thematisierte, und wie er die Lage in der Türkei heute sieht.
Herr Akin, „Tschick“ hat mehr als 2 Millionen Leser gefunden. Wie erklären Sie sich die generationsübergreifende Begeisterung?
Wolfgang Herrndorf hat einen Nerv getroffen, indem er über Teenager schreibt, aber aus der Perspektive eines Erwachsenen. Offensichtlich funktionieren solche Geschichten für beide Generationen. Für Teenager, die ihre Jugendzeit gerade erleben, hat der Stoff aktuelle Lebensbezüge. Ein Erwachsener kann anhand des Buches auf die eigene Jugendzeit zurückblicken.
Die Literatur hat das Kino immer stark beeinflusst. Zeigt Herrndorfs Roman nicht, dass das auch umgekehrt gut funktioniert?
Das ist aber keine neue Entwicklung. Literatur und Kino haben immer Ping-Pong miteinander gespielt. Aus seinem Blog „Arbeit und Struktur“ weiß man, dass Wolfgang Herrndorf oft ins Kino gegangen ist, dass Filme eine wichtige Inspiration für ihn waren. In „Tschick“ erkennt man Motive aus Hark Bohms „Nordsee ist Mordsee“ oder Rob Reiners „Stand By Me“.
Haben Sie eine Lieblingsstelle im Roman?
Ja, das ist der Moment, an dem die Jungs nachts in die Sterne gucken und feststellen, wie klein ihre Existenz eigentlich ist. Als ich das gelesen habe, stand für mich fest, dass ich das Buch verfilmen wollte.

„Ich bin Euer Regisseur und Boss“

Jugendliche Charaktere werden im Kino oft von jungen Erwachsenen gespielt. Warum haben Sie sich für zwei unbekannte junge Darsteller entschieden?
Ich mag Kids und komme gut mit ihnen klar. Teenager sind ganz besondere Wesen, wie Raupen, die gerade dabei sind zu Schmetterlingen zu werden. Das ist ein sehr spannendes Alter. Anand Batbileg und Tristan Göbel waren bei den Dreharbeiten 13 Jahre alt. Aber ich habe den beiden gleich eine klare Ansage gemacht: „Ich bin euer Regisseur und euer Boss. Ich werde fluchen, rauchen, trinken und mich nicht zusammenreißen, nur weil ihr Teenies seid.“ Das fanden die Jungs gut. Wir hatten einen ehrlichen, direkten Umgang miteinander. Das ist auch mein Ansatz für den Film: Ich möchte den jugendlichen Charakteren auf Augenhöhe begegnen.
Wie sind Sie mit Ihrer ersten Bestseller-Adaption eigentlich zurecht gekommen?
„Tschick“ ist ja schon eine heilige Kuh. Die Erwartungshaltungen sind sehr groß. Trotzdem ist eine Literaturverfilmung dankbarer und leichter, als wenn man selbst vor einem leeren Blatt Papier sitzt und sich alles alleine ausdenken muss. Ich merke auch, dass es mir mit zunehmenden Alter schwerer fällt, Originalstoffe aus dem Ärmel zu schütteln.
Was hat das mit dem Alter zu tun?
Als Anfänger hat man bestimmte Stoffe, die man erzählen will. Irgendwann hat man sie alle erzählt und muss sich neu orientieren. Ich bin keiner wie Woody Allen, der seinen Stil gefunden hat und in den Gewässern bleibt, die er kennt. Das finde ich nicht verwerflich, aber ich bin einfach anders gestrickt. Ich bin neugierig und möchte Risiken eingehen. Aber ich habe gemerkt, dass ich in meinem jetzigen Alltag mit Kindern und Familie viel mehr Zeit brauche, um einen eigenen, neuen Stoff zu entwickeln. Und ich will ja nicht nur alle fünf Jahre einen Film machen.

Mit „The Cut“ viel Geld verloren

Ist „Tschick“ auch der notwendige Ausgleich zu Ihrem vorigen Mammutvorhaben „The Cut“, an dem Sie über fünf Jahre gearbeitet haben?
Filme werden durch nichts anderes zu Filmen als durch Geld. Deshalb müssen sie sich rechnen. Ich habe mit „The Cut“ viel Geld verloren. Wenn mir jemand anbieten würde, das Leben von Freddie Mercury zu verfilmen, dürfte das ruhig teuer sein, weil es genug Queen-Fans gibt, die sich dafür auf jeden Fall interessieren. Bei einem Film über den Völkermord an den Armeniern ist das Risiko wesentlich größer.
Der Bundestag hat kürzlich eine Resolution zum Völkermord an den Armeniern verabschiedet. Glauben Sie, das ist zu einem kleinen Teil auch das Verdienst Ihres Filmes?
Das würde ich mir nicht anmaßen. Ich finde die Stellungnahme des Bundestages sehr gut und würde sie jederzeit unterschreiben. „The Cut“ sollte Teil eines Aufarbeitungsprozesses sein. Viele junge Leute, auch und besonders in der Türkei, wissen davon ja nichts. Ich finde es wichtig, dass es die Stellungnahme des Bundestages gibt. Sie ist Ausdruck einer Aufarbeitungskultur in Deutschland, die ich sehr schätze.
Vor elf Jahren haben Sie mit „Crossing the Bridge“ eine Türkei im kulturellen Aufbruch gezeigt hat. Wie blicken Sie heute ins Land des autoritären Erdogan?
Da macht sich in mir schon eine gewisse Resignation breit. Vor zehn Jahren herrschte in der Türkei eine große Aufbruchstimmung. Wie liberal, fortgeschritten, ausgeglichen und friedlich das Land damals war! Aber diese Entwicklung wurde in den letzten Jahren gewaltsam zurückgedreht. Ich zwinge mich ein bisschen zum Optimismus und versuche mir vor Augen zu führen, dass wir uns – und das gilt nicht nur für die Türkei - in einem Evolutionsprozess befinden, in dem sich irgendwann doch die schlaueren, humanistischen und empathischen Kräfte durchsetzen. Vielleicht muss man erst zwei Schritte zurück machen, um vier nach vorne gehen zu können. Auch wenn es nicht leicht fällt, versuche ich, die Hoffnung nicht aufzugeben.
Das Gespräch führte Martin Schwickert