Feuerwehrmänner beim Brand einer Lagerhalle in Hegnach 2013. Foto: Gottfried Stoppel

Mindestens 79 Menschen – darunter viele Kinder – sind beim verheerenden Hochhausbrand in London ums Leben gekommen. Feuerwehrleute werden fast täglich mit Verzweiflung, Unglück und Tod konfrontiert. Wie verkraften sie die Schreckensbilder? Ein Kommandant einer freiwilligen Feuerwehr erzählt.

Stuttgart - Er zögert. Schließlich betritt der Feuerwehrmann das Kinderzimmer. Die Reste der Gardine flattern im Fensterrahmen, das Glas ist unter der Hitze des Feuers geborsten. Im Stockbett liegen zwei Jungen– im Schlaf erstickt. Gitter vor den Fenstern und beißender Rauch, der eingeatmet nach wenigen Minuten zum Tod führt, haben ihnen keine Chance gelassen. Der Feuerwehrmann weiß von den verzweifelten Notrufen der Mutter, die zuvor bei der Feuerwehrleitstelle eingegangen sind. Was aber im Nebenzimmer auf ihn wartet, wird ihn nie wieder loslassen: Da liegt die Mutter der Jungen, ein Baby im Arm. Sie sind tot, die Hilferufe längst verstummt. Das Klingeln eines Telefons durchbricht die Stille. Es ist die Leitstelle, die beharrlich versucht, Kontakt zu der Frau aufzunehmen. Aber es ist schon zu spät.

„Das Telefonklingeln höre ich heute noch und sehe die Frau mit ihren toten Kindern vor mir“, erzählt Holger B. (Name geändert). Er hat in seiner Laufbahn schon viele entsetzliche Szenen miterlebt. Doch bei diesem Einsatz an einem Sonntagmorgen passiert etwas mit ihm. Seine Seele bekommt einen Knacks. „Ich bin in Behandlung“, sagt der Mann, der seit vielen Jahren eine freiwillige Feuerwehr im Großraum Stuttgart kommandiert.

Nach Katastrophen, Unfällen, Bränden gibt es heute ein dichtes Netz an psychologischer Betreuung, die Opfer und ihre Angehörigen auffängt. Wer aber kümmert sich um die professionellen Helfer, die fast täglich mit Schreckensbilder konfrontiert werden? Stirbt ein Mensch bei einem Verkehrsunfall, sind im Schnitt 113 andere Menschen unmittelbar betroffen. Darunter: elf Angehörige, vier enge Freunde, 46 Bekannte – und 42 Einsatzkräfte wie Sanitäter, Feuerwehrleute oder Polizisten. Das hat eine aktuelle Studie der Verkehrssicherheitskampagne „Runter vom Gas“ ergeben. Der Deutsche Feuerwehrverband geht davon aus, dass von hundert Feuerwehrmännern zwei bis fünf mit den Folgen eines Traumas zu kämpfen haben.

Harte Kerle, die nichts umwirft

Genauere Zahlen gibt es nicht. Ob die psychische Belastung für Rettungskräfte zugenommen hat, ist also kaum zu belegen. Klar ist aber: Noch vor zwanzig Jahren versuchte man die grauenvollen Bilder, die einen nachts nicht mehr schlafen ließen, im Stillen für sich und ohne professionelle Hilfe aus dem Kopf zu kriegen. Feuerwehrmänner wollten harte Kerl sein, die nichts so schnell umhaut. „Die Nachsorge für die Seele wurde eher belächelt, getreu dem Motto: Wir kriegen das schon alleine hin“, sagt Walter Zaiss, der sich bei der Feuerwehr Stuttgart um Kollegen in seelischer Not kümmert. Inzwischen habe sich viel geändert, sagt Zaiss. Heute gelte man nicht mehr als Weichling, wenn man sich und anderen eingesteht, dass mancher Einsatz einen mehr mitnimmt, als gut für einen ist.

Auch das Hilfsangebot ist jetzt größer: Der Landesfeuerwehrverband hat ein Auge auf das psychische Wohl seiner Leute – obgleich dabei Begriffe wie Posttraumatische Belastungsstörung oder Burn-out-Syndrom lieber vermieden werden. Man setzt auch zunächst auf Notfallnachsorger aus den eigenen Reihen anstatt auf externe Psychologen. „Die Gesundheit unserer Einsatzkräfte ist uns sehr wichtig. Wir sind für unsere Kameraden da, um sie aufzufangen, wenn sie in einem Einsatz belastende Ereignisse erlebt haben“, sagt Walter Reber, der Fachleiter für Sozialwesen, Unfallverhütung und Notfallnachsorge beim Feuerwehrverband Baden-Württemberg.

Die Hilfe reicht von der gesetzlichen Unfallversicherung, die im Notfall schnellen Zugang zu einem Psychologen gewährleistet, bis zum Feuerwehrhotel St. Florian in Titisee-Neustadt, das auch dazu dient, die Genesung nach Unfällen oder traumatischen Ereignissen zu unterstützen.

„Ich will das nicht mehr sehen“

In Stuttgart gibt es rund 500 Berufsfeuerwehrleute. Sie kommen im Schnitt jeden Tag auf 40 Einsätze. Dabei geht es zwar oft nur um harmlose Fälle wie Katzen, die von Bäumen geholt, oder Pferden, die aus einem Graben befreit werden müssen. Trotzdem findet sich fast niemand, der nach ein paar Berufsjahren nicht schon Schwerverletzte oder Tote aus einem Autowrack geschnitten hat, der nicht schon vor Ort sein musste, nachdem sich ein lebensmüder Mensch vor den Zug warf. „Bei solchen Einsätzen dabei zu sein, das schaffe ich heute fast nicht mehr. Ich will das nicht sehen. Ich weiß ja, was kommt“, sagt Holger B., der bald in den Ruhestand geht.

Seit mehr als 30 Jahren wacht der hauptberufliche Helfer über das Wohl von 200 freiwilligen Feuerwehrleuten. Er, der seit einiger Zeit in therapeutischer Behandlung ist, entscheidet bei jedem Einsatz, wer von seinen Leuten am ehesten belastbar ist.

Die Gusseisernen in die erste Reihe

Nur die Gusseisernen, wie er sagt, schicke er in die erste Reihe. Wie eisern sie wirklich sind, zeigt sich erst nach dem Einsatz. Dann kommen die Helfer noch einmal zusammen, um im vertrauten Kreis über das Erlebte zu sprechen. Mit dabei ist auch ein Notfallnachsorger der Feuerwehr. Wenn sich einer der Kollegen etwas seltsam verhält, macht Holger B. den Nachsorger darauf aufmerksam. „Dann fordere ich ihn auf: Sprech mal mit dem, der ist so still. Horch mal rein, was da los ist.“

Bei der Stuttgarter Feuerwache gibt es inzwischen das sogenannte Einsatzkräfte-Nachsorge-Team, kurz ENT. Es besteht aus freiwilligen Feuerwehrleuten, die hauptberuflich Pfarrer, Pädagogen oder Krankenschwestern sind und eine zusätzliche psychosoziale Ausbildung gemacht haben. Zwei Nachsorger sind jederzeit für die Einsatzkräfte erreichbar. Meist ist es der jeweilige Kommandant, der das Team alarmiert, weil sich ein Kollege auffällig benimmt. Das kann der frischgebackene Vater sein, der einen Einsatz mit toten Säuglingen nicht verkraftet oder sich weigert, zu einem Unfall mit Kindern auszurücken. „Obwohl wir vorbereitet sind, kann es auch uns durch den Helm treffen, mitten in die Psyche“, sagt Walter Zaiss, ENT-Einsatzleiter und Pfarrer im Ruhestand. Damit sich die Feuerwehrmänner nicht bloßgestellt fühlen, sprechen er und seine Kollegen vertraulich mit den Betroffenen.

Die Stuttgarter Feuerwache war es, die 1994 bundesweit eine der ersten und maßgeblichen Initiativen für eine psychologische Nachbereitung belastender Einsätze startete. Auslöser damals: der verheerende Brand in der Geißstraße mit sieben Toten und zig traumatisierten Helfern. „Es brauchte mindestens zehn Jahre, bis die Not der Feuerwehrmänner endlich zum Thema wurde“, sagt Walter Zaiss. Wie viele der Männer (und Frauen) heute diese Hilfe annehmen? Das darf Zaiss nicht sagen, weil es unter das Seelsorgegeheimnis fällt. „Fakt ist: Wir werden gebraucht!“ Bis zu fünf Einsätze hat sein Team pro Woche. Es betreut 600 Stuttgarter Einsatzkräfte der Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienste.

Ein Blick auf die Arbeit des Notfallnachsorgers Walter Reber zeigt, welche Sorgen die Brandbekämpfer haben: Er erzählt von einem Feuerwehrmann, Mitte 20, der vor Kurzem auf ihn zugetreten sei: „Er hat bei einem Einsatz nach Suizid auf Bahngleisen Schlimmes gesehen. Das konnte er nicht ganz verkraften.“ Besonders die Jüngeren würden oft nach außen hin den starken Mann spielen, während es aber im Inneren schon beginne zu brennen. „Der junge Mann gestand sich schließlich ein, dass er Hilfe braucht. So konnte ich ihn im Gespräch wieder abholen“, sagt Reber, der seit 46 Jahren bei der Feuerwehr ist.

Schweißausbrüche und Schlafstörungen

Holger B., der traumatisierte Kommandant, ist für Reber ein Sonderfall. Denn bisher habe er noch keinen seiner Schützlinge an Psychologen weitervermitteln müssen. Über die Jahre ist so innerhalb der Feuerwehr ein Auffangnetz entstanden, das die meisten vor dem Abgrund rette. Und trotzdem gibt es sie – Kollegen, die durchs Netz fallen und sich das Leben nehmen.

Bei Holger B. ging es irgendwann nicht mehr ohne psychologische Hilfe: „Ich bin ständig gereizt, auch in der Familie. Bei jeder Kleinigkeit bin ich sofort oben draußen, nervös und aufgeregt. Ich habe nachts Schweißausbrüche, wache auf und kann dann nicht mehr einschlafen“, sagt er. Auch tagsüber muss er ständig seine Gedanken in andere Bahnen zwingen. Der Anblick der toten Mutter und ihrer Kinder habe bei ihm irgendwie einen Schalter umgelegt, sagt er.

Seine Männer kennen die Probleme ihres Kommandanten – und werten seine Offenheit als Stärke. Er stürzt sich in die Arbeit, hält sich immer beschäftigt, um bloß nicht ins Grübeln zu kommen. Im Gespräch faltet er immer wieder seine unruhigen und kräftigen Hände fest zusammen. Unzählige Leben haben diese Hände schon gerettet. Wie ein Held fühlt er sich nicht. Was treibt ihn an, immer weiterzumachen? „Wir helfen“, sagt Holger B. , „weil es unsere Aufgabe ist. Das kommt von Herzen.“