Mithilfe bildgebender Verfahren konnten Neurowissenschaftler inzwischen nachweisen: Der Tinnitus entsteht nicht im Ohr, sondern im Gehirn. Foto: DAK/Wigger

Tinnitus bleibt oft ein Leben lang – doch man kann lernen, mit ihm umzugehen. Welche Therapien Forscher für sinnvoll halten.

Regensburg - Colosseum! Die britische Jazzrockband wird Peter Eckner für immer in unangenehmer Erinnerung bleiben. Denn bei deren Konzert packte ihn vor 20 Jahren der Tinnitus. „Ich möchte nicht wissen, wie viel Geld ich bereits in all den Therapien versenkt habe“, klagt der mittlerweile pensionierte Verwaltungsbeamte. „Und das alles nur, um morgens doch wieder von dem Mann im Ohr geweckt zu werden.“ Wobei aus dem aggressiven Klingeln mittlerweile wenigstens ein sanfteres Brausen geworden ist.

Etwa drei Millionen Menschen leiden hierzulande an chronischem Tinnitus, etwa jeder vierte von ihnen spürt einen therapiebedürftigen Leidensdruck. Die meisten haben einen ähnlichen Behandlungsmarathon hinter sich wie Peter, am Ende meistens ohne Erfolg. Weswegen viele Ärzte ihren Patienten lapidar mitteilen: „Damit müssen Sie jetzt leben.“ Ohne Rücksicht darauf, dass diese Nachrichten, wie Tinnitus-Experte Berthold Langguth von der Universität Regensburg betont, „von vielen Patienten als der schlimmste Moment ihrer Krankheitsgeschichte geschildert werden“.

Tinnitus-Masker werden Patienten wie ein Hörgerät ins Ohr gesetzt

Mittlerweile gehen Wissenschaftler davon aus, dass Tinnitus wohl seinen Ursprung im Ohr hat, dann jedoch wesentlich aus dem Gehirn gespeist wird. Demnach steht am Anfang die Zerstörung von Sinneszellen im Innenohr, beispielsweise durch Lärmtrauma, Infekte, Gifte oder auch eine Mangeldurchblutung infolge von starkem Stress. In der Folge bekommen die Neuronen, die in den akustischen Verarbeitungszentren des Gehirns den zerstörten Sinneszellen zugeordnet sind, keinen Input mehr. Und weil sie die plötzliche Stille schlichtweg nicht ertragen können, steigern sie ihre Erregbarkeit. Genauso, wie man am Radio den Lautstärkeregler aufdreht, um die Nachrichten besser hören zu können. Nur dass eben aus zerstörten Hörzellen kein Signal mehr herauszuholen ist – außer jenem Grundrauschen, das in den akustischen Verarbeitungsbahnen des Nervensystems selbst produziert wird: Es kommt zum Tinnitus. Und zwar vor allem auf den Hörfrequenzen, die von den Zerstörungen im Innenohr betroffen sind.

Die Erkrankung hat also ihre Ursprünge mehr zwischen den Ohren als in den Ohren selbst. Weswegen Medikamente zur Durchblutungsförderung allenfalls im Anfangsstadium noch einen Effekt erzielen können. Die meisten Tinnitus-Experten sehen die therapeutische Zukunft eher in hirnphysiologischen oder psychologischen Verfahren. Wie etwa in der transkraniellen Magnetstimulation, bei der das Gehirn magnetischen Feldern ausgesetzt wird. In einer Studie der US-Veteranen-Behörde zeigte sie beachtliche Erfolge. Als Wirkursache wird vermutet, dass die niederfrequenten Magnetwellen das Hörzentrum im Gehirn beruhigen.

In einigen Fällen können die Masker das Problem verschlimmern

Schon länger in der Therapielandschaft sind sogenannte Tinnitus-Masker, die dem Patienten wie ein Hörgerät ins Ohr gesetzt werden und ihm ein sanftes Dauerrauschen einspielen. Im Wesentlichen geht es hier darum, vom Tinnitus abzulenken. Viele Betroffene wenden dieses Prinzip bereits an, indem sie etwa das Radio ohne Sender auf Rauschen einstellen oder sich einen Zimmerspringbrunnen anschaffen. Die Masker müssen demgegenüber nicht zwangsläufig besser sein, aber sie haben den Vorteil, dass man sie individuell auf den Patienten einstellen kann. „Der Tinnitus wird dann oft als weniger belastend empfunden“, erklärt Santosh Kumar Swain von der Anusandhan University in Odisha, der kürzlich zusammen mit anderen indischen Experten ein umfangreiches Gutachten zu den üblichen Tinnitus-Therapien publiziert hat.

In einigen Fällen können die Masker das Problem allerdings sogar verschlimmern – dann nämlich, wenn der Patient weiterhin so fokussiert bleibt, dass er seine Ohrtöne unter den Maskergeräuschen heraushören kann.

Genau diese Fokussierung abzubauen ist das Hauptziel der kognitiven Verhaltenstherapie. Denn oft ist man im Alltag weitaus größerem und unangenehmerem Lärm ausgesetzt, den man jedoch nicht wahrnimmt, weil er nicht als Bedrohung empfunden wird. Und genau diese Ignoranz soll nun in der Verhaltenstherapie in Bezug auf den Tinnitus erlernt werden, beispielsweise dadurch, dass man negative Einstellungen zu ihr („Warum ausgerechnet ich?“, „Tinnitus ist ein Infarkt im Innenohr“) abbaut. „Die Ohrgeräusche werden dadurch zwar nicht leiser, aber sie lassen sich dann besser aushalten“, erklärt Swain.

Bei der auditorischen Stimulation hört man seine Lieblingsmusik

Studien der letzten Jahre geben Hinweise auf eine Wirksamkeit der „auditorischen Stimulation“. Dabei hört der Patient seine Lieblingsmusik, nur dass dabei jene Frequenzen herausgefiltert wurden, auf denen sein Tinnitus funkt. Auf diese Weise soll das Gehirn zur Erkenntnis geführt werden, dass es die Wahrnehmung der betreffenden Töne nicht mehr braucht und die zuständigen, überaktiven Zellen im Hörzentrum zurückfahren kann. Seit Kurzem gibt es diese Anwendung auch als App fürs Smartphone, und die Techniker-Krankenkasse hat in einem Hamburger Modellversuch sogar die Kosten übernommen.

Für Peter ist die Musiktherapie allerdings keine Option, denn er hat Musik als Auslöser seiner Ohrgeräusche erlebt. Sein Projekt ist die Neuraltherapie. Dabei werden lokale Betäubungsmittel an sogenannten Störfeldern injiziert. Sein Arzt sagte ihm, dass dabei eine Art Reset der irritierten Nerven und Hirnareale angestrebt würde. Eine Injektionssitzung hat Peter schon hinter sich, und er meint, dass sich sein Ohrensausen verändert hätte – das hat er aber öfter geglaubt.

Sind Ohrgeräusche vererbbar?

So entstehen Ohrgeräusche

Wie entsteht Tinnitus? Am Anfang der Erkrankung steht nach aktuellem Stand der Wissenschaft eine Schädigung des Gehörs, etwa durch Lärm oder durch einen Hörsturz. Dabei ist die Funktion der Haarzellen im Innenohr gestört, die normalerweise Schallwellen in elektrische Energie umwandeln und über den Hörnerv an das Gehirn weiterleiten. Fällt dieser akustische Input teilweise weg, verändern sich die Nervenzellen in der Hörrinde. Dabei entsteht in einigen Arealen eine Überaktivität. Neurowissenschaftler vergleichen diesen Mechanismus mit der Entstehung von Phantomwahrnehmungen nach einer Amputation: Wenn aus einem Körperteil keine Informationen mehr ankommen, produziert das Gehirn sie manchmal einfach selbst. Im Falle des Tinnitus ist das Ergebnis ein Tonsignal oder ein Rauschen.

Kann man Tinnitus vererben? Migräne, Krebs, Diabetes, Rheuma – bei vielen Erkrankungen spielen die Gene eine wesentliche Rolle. Nicht aber beim Tinnitus. Das haben norwegische und amerikanische Mediziner im Rahmen einer groß angelegten Gesundheitsstudie ermittelt. Wer einen engen Verwandten mit Tinnitus hat, erkrankt demnach kaum häufiger als jemand, dessen Ehepartner – der ja bekanntlich nicht das Erbgut teilt – betroffen ist. „Das hat uns überrascht“, erklärt Studienleiterin Ellen Kvestad vom Norwegischen Institut für öffentliche Gesundheit in Oslo. Die meisten bislang untersuchten Erkrankungen seien mehr oder weniger vererbbar – und ausgerechnet beim Ohrensauen scheinen die Umweltfaktoren wie ein Lärm-Trauma, Stress, Infekte, Gifte oder Durchblutungsstörungen deutlich wichtiger zu sein.