Trauerumzug für die Opfer von Ernst August Wagner in Mühlhausen an der Enz. Foto: Mühlhausen/Enz.de

Im Knabenalter galt er als Musterschüler, als Lehrer gehörte seine Leidenschaft der Dichtkunst. Am 4. September 1913 tötete Ernst August Wagner in Degerloch seine Frau, die vier Kinder und anschließend neun weitere Menschen. Sein Motiv: Scham wegen Unzucht mit Tieren.

Stuttgart - 3. September 1913: Es ist ein angenehmer Spätsommerabend in Degerloch. Ernst August Wagner sitzt mit seiner Frau, den vier Kindern und der Vermieterin im Garten. Die Kleinen spielen, die Erwachsenen unterhalten sich. Gegen 21 Uhr begibt man sich zur Ruhe. Am nächsten Morgen sind Anna Wagner und die Kinder tot. Gegen fünf Uhr morgens schlägt der Hausherr seine Frau mit einem Totschläger bewusstlos und ermordet sie durch Messerstiche in Hals, Herz und Lunge. Daraufhin begibt er sich zu den Jungen Robert und Richard und tötet auch sie, bevor er sein grausiges Werk an den Mädchen Klara und Elsa fortsetzt. Anschließend bedeckt er die Leichen mit Bettzeug, wäscht sich ausgiebig, bekleidet sich sorgsam und steckt drei Schusswaffen und über 500 Schuss Munition ein. Er schreibt auf eine Schiefertafel: „Ausflug nach Ludwigsburg“ und hinterlässt auf der Türschwelle für eine Nachbarin die Bestellung von drei Schoppen Milch. 35 Pfennige legt er bei.

Er begibt sich zum Stuttgarter Bahnhof, gibt sein Fahrrad auf und fährt mit dem Zug nach Ludwigsburg. Im Vorort Eglosheim will er den Bruder besuchen, trifft aber nur die Schwägerin an. Mit Bahn und Rad fährt er weiter nach Mühlhausen an der Enz, heute ein Ortsteil der Stadt Mühlacker. Während der Eisenbahnfahrten und Versorgungsstopps schreibt er Briefe. Post von Wagner bekamen unter anderen seine Vermieterin („Ich bitte um Verzeihung (...) es war nicht anders zu machen“), seine Schwester („Nimm Gift!“), sein Schwager und der Schulrektor in Degerloch. Das Bekennerschreiben an die Redaktion des „Neuen Tagblattes“ in Stuttgart ist überschrieben mit: „An mein Volk!“.

Wagner in Anstaltskleidung. Foto: Mühlhausen/Enz.de

Gegen 23 Uhr erreicht der Degerlocher Hauptlehrer Mühlhausen an der Enz, wo er zwölf Jahre zuvor als Unterlehrer tätig gewesen war. Er legt in dem kleinen Ort mehrere Brände. Als die ersten Menschen ins Freie stürmen, um zu sehen, was los ist, schießt Wagner auf alle Männer, die ihm vor den Lauf kommen. Am Ende liegen neun Menschen tot in ihrem Blut, darunter ein zehnjähriges Mädchen. Ein Opfer, das der Täter später als „Irrtum“ bedauerte. Elf „Mühlhäuser“, wie man im Schwäbischen sagt, sind zum Teil schwer verletzt worden. Fünf Haupt- und einige Nebengebäude werden ein Raub der Flammen. Schließlich gelingt es drei beherzten Einwohnern, den Amokschützen zu überwältigen. Bei dem Kampf zieht er sich diverse Gesichtsverletzungen zu. Der linke Unterarm wird dermaßen zertrümmert, dass er amputiert werden muss.

Er kam dann „leider ins Saufen, Spielen und Huren“

Ernst August Wagner kam am 22. September 1874 in Eglosheim in ärmlichen Verhältnissen zur Welt. Der Vater starb, als Ernst August zwei Jahre alt war. Die Mutter galt „als leichtsinnige Person“. Der Knabe hingegen galt als Musterschüler, der Jüngling erhielt eine Anstellung als „Schulamtszögling mit Staatsunterstützung“. Er kam dann „leider ins Saufen, Spielen und Huren.“ Darüber hinaus war der junge Mann der Onanie verfallen, was, so war er überzeugt, seinem Leben „eine tieftraurige Richtung gab“. Beide Examen wurden übrigens mit „gut“ bewertet. Wagner bekam eine Anstellung in Mühlhausen.

Im Jahre 1903 ehelichte er die 19-jährige Wirtstochter Anna, nachdem sie ein Kind von ihm zur Welt gebracht hatte. Er avancierte zum Hauptlehrer – damals die Bezeichnung für den Leiter einer kleinen Volksschule. Seine wahre Leidenschaft gehörte jedoch der Dichtkunst: „Was Schiller, was Goethe! Ich bin der größte deutsche Dramatiker.“ Derartige Reden schwang er gerne im Wirtshaus. Zum Beispiel über die Landesbibliothek Stuttgart: „Alles soll verbrennen, bis auf das, was von mir drin ist. Damit ich der einzige Klassiker bin“. Er übersah dabei, dass seine Werke in keiner Bücherei zu finden waren.

Übereinstimmend als großsprecherisch wahrgenommen

Wagner wurde von seiner Umwelt recht unterschiedlich wahrgenommen. Mal als ordentlich und fleißig, mal als Atheist, Sozialist, Anarchist, aber übereinstimmend als großsprecherisch. Der Pädagoge offenbarte eine seltsame Mischung aus Selbstmitleid und Größenwahn: „Nehmt den Nazarener vom Kreuz herab und heftet mich daran, ich bin das fleischgewordene Leiden. Ja, wenn ich an das Opferlamm zu Golgatha denke, kann ich nur lächeln . . .“ Andererseits beherrschte eine an spätere Nazi-Ideologie erinnernde Aggressivität seine Gedanken: „Wir schiffen zu sehr in übel riechenden Niederungen und müssen nun endlich den Ballast auswerfen, um in reiner, gesunder Region zu schweben. Ich habe ein scharfes Auge für alles Kranke und Schwache, bestellt mich zum Exekutor . . . 25 Mio. Deutsche nehme ich auf mein Gewissen, es soll nicht um ein Gramm schwerer belastet sein als zuvor.“

In langen Gesprächen mit dem Psychiater Robert Gaupp (1870 bis 1973), ein Befürworter rassehygienischer Zwangssterilisierung und erbitterter Gegner der „Emanzipationsseuche fanatisierter Weiber“, erläuterte Wagner sein Motiv für die Morde. Als sehr junger Mann will er in Mühlhausen nach einem Kneipenbesuch Unzucht mit Tieren getrieben haben. Aus Scham und Angst vor Entdeckung sei er seitdem stets bewaffnet herumgelaufen, um sich zu erschießen, sollte er wegen der Verfehlung verhaftet werden. Zur fixen Idee wurde ihm die Überzeugung, die Mühlhausener würden sich über ihn, den Sodomiten, lustig machen, ihn verachten. Er meinte sie an jeder Straßenecke tuscheln und kichern zu hören. Und darauf stand seiner Meinung nach die Todesstrafe.

Wagner gedachte in der Herzogin Bett zu verbrennen

Später sollte sich herausstellen, dass kein Mensch etwas von der „Untat“ wusste. Seine Frau und die Kinder hat Wagner dagegen „aus Mitleid“ umgebracht. Er wollte ihnen die Schande ersparen. Er hatte geplant, Mühlhausen komplett auszulöschen. Danach wollte er einen Zug kapern, in Eglosheim anhalten lassen, den Bruder und dessen Familie abschlachten, um anschließend das Ludwigsburger Schloss anzuzünden. Wagner gedachte in der Herzogin Bett zu verbrennen.

Im Prozess in Heilbronn erklärten ihn die Gutachter für unzurechnungsfähig. Er wurde in die Heilanstalt Winnenthal bei Winnenden eingeliefert. Wagner, der es übrigens begrüßte, wenn die Hälfte der Menschheit totgeschlagen würde, hielt sich selbst („klammert man das Sexuelle aus“) für einen guten Menschen. Er schrieb weiterhin fleißig Briefe und Dramen, darunter eines über den bayerischen König Ludwig II. mit dem Titel „Wahn“. Seine Werke wurden nie veröffentlicht oder aufgeführt. Er selbst ließ einige Exemplare drucken. In späteren Jahren hielt sich der 14-fache Mörder für „den ersten Nationalsozialisten“. Ernst August Wagner starb 1938 an Tuberkulose.

Hermann Hesse ließ die Figur des Amokläufers Ernst August Wagner in seine Erzählung „Klein und Wagner“ (1919) einfließen. Wagners Gedankenwelt wird in jüngster Zeit mit der des Massenmörders Anders Breivik verglichen. Breivik tötete 2011 in Norwegen 77 Menschen. In Winnenden, Wagners letztem Wohnort, und in Wendlingen erschoss im Jahr 2009 der 17-jährige Amokläufer Tim K. 16 Menschen.