Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU), Wirtschaftsministerin in Baden-Württemberg, fürchtet negative Folgen fürs Land im Falle eines Brexits. Foto: Schwarzwälder-Bote

"Einbußen für die Schlüsselindustrie": Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut fürchtet, dass ein Brexit auch Verbraucher betrifft.

Stuttgart/Balingen - Am Donnerstag stimmen die Briten darüber ab, ob sie in der Europäischen Union bleiben. Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) aus Balingen hofft, dass das Referendum zum Anlass genommen wird, die Europapolitik zu überdenken.

Frau Hoffmeister-Kraut, in welchen Punkten haben die Brexit-Befürworter recht?

Aus Sicht Baden-Württembergs und Deutschlands kann man den Brexit nicht befürworten. Der Brexit brächte Einbußen mit sich – auch für die baden-württembergische Schlüsselindustrie. Vor allem aber würde ein Brexit an der gesamten europäischen Idee kratzen. Insofern hoffe ich, dass die Briten sich für einen Verbleib in der Europäischen Union entscheiden, zum beiderseitigen Wohl. Gleichwohl sollte das Referendum als Anlass genutzt werden, um die Europapolitik in bestimmten Punkten zu überdenken und zu verbessern.

Was meinen Sie?

Der britische Premierminister David Cameron hat den richtigen Nerv getroffen, als er an einigen Punkten nachverhandelt hat. Ich meine damit die Einschränkung von Sozialleistungen und staatlichen Lohnzuschüssen für EU-Ausländer, die Anpassung von Kinderzulagen an das Niveau im Heimatland oder den Einfluss Großbritanniens im Gesetzgebungsverfahren zur Bankenregulierung und die weitere politische Integration des Landes in die EU. Wenn sich Großbritannien für einen Verbleib in der EU entscheidet, werden diese Punkte Schritt für Schritt umgesetzt. Die EU ist natürlich ein kompliziertes Konstrukt, aber sie darf dennoch die nationalen Interessen nicht außer Acht lassen. Künftig wäre es hilfreich, wenn man einen Kompromiss findet, bevor man wegen Kleinigkeiten den Europäischen Gerichtshof aufsuchen muss.

Welchen Fall haben Sie da im Auge?

Wir suchen beispielsweise derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof nach einer Lösung für die Frage, ab wann der kleine baden-württembergische Handwerker für den Müll, der auf Baustellen entsteht, eine extra Sondermüllgenehmigung einholen muss. Ginge es nach der EU, müsste er sich für jede Baustelle eine extra Genehmigung besorgen – nochmals gesondert für jede Müllart, also Holz, Farbe, et cetera. Das ist teuer, bürokratisch und kostet Zeit. Und ob es den Umweltschutz wirklich weiter voranbringt, darf bezweifelt werden. Das Referendum sollte zum Anlass genommen werden, zu einem neuen Europa aufzubrechen. Man muss den europäischen Gedanken wieder mehr in das Bewusstsein der Menschen rücken und den Bürgern zeigen, dass die EU mehr ist als eine enorm große, weit von den Bürgern entfernte Bürokratie, die den Menschen immer mehr Regelungen aufdrückt für Dinge, die in ihren Ländern längst ausreichend und gut reguliert sind.

Sie sprachen von wirtschaftlichen Einbußen durch den Brexit. Wodurch entstehen diese?

Großbritannien ist ein wichtiger Handelspartner für Baden-Württemberg. Unsere Firmen liefern jährlich Waren im Wert von 12,3 Mrd. Euro ins Vereinigte Königreich. Damit liegt Großbritannien auf Platz sechs der wichtigsten Exportländer Baden-Württembergs. Tritt Großbritannien aus der EU aus, entstehen Handelshemmnisse, die sicher zu Exporteinbußen führen würden. Großbritannien könnte die EU frühestens in zwei Jahren verlassen und müsste dann seine Wirtschaftsbeziehungen zur EU und damit auch zu Deutschland komplett neu organisieren. Die Briten könnten auf einen vergleichbaren Status drängen wie die Schweiz ihn hat. Dadurch hätten die Briten einen Zugang zum europäischen Binnenmarkt, nicht aber zu den wichtigen Finanzdienstleistungen. Es könnte auch auf eine Zollunion hinauslaufen wie sie zwischen der EU und der Türkei besteht. Aber auch diese Optionen wären erst hart zu verhandeln. Den Briten muss klar sein, dass man im Falle solcher bilateralen Handelsabkommen nicht nur profitieren kann. Wer etwas will, muss auch etwas geben. Einseitige Rosinenpickerei halte ich für ausgeschlossen.

Welche baden-württembergischen Unternehmen wären von den Handelshemmnissen besonders betroffen?

Ein Brexit würde die baden-württembergischen Schlüsselindustrien treffen. Rund ein Drittel der Exporte von Baden-Württemberg nach Großbritannien entfallen auf die Autohersteller und die Zulieferer. Für die Autoindustrie ist das Vereinigte Königreich der drittwichtigste Exportmarkt. Auch die Maschinenbaubauer wären betroffen. Diese liefern jährlich Waren im Wert von fast 2 Mrd. Euro nach Großbritannien.

Inwiefern würden die Verbraucher Baden-Württembergs das zu spüren bekommen?

Auch das bewegt sich aus heutiger Sicht noch im Spekulativen. Die Verbrauer könnten auf verschiedenen Ebenen belastet werden. Bestimmte britische Produkte würden teurer, wenn Handelshemmnisse aufgebaut und Zölle fällig werden. Das Importvolumen liegt bei 4,4 Mrd. Euro. Außerdem würden wir mit Großbritannien einen der großen Nettozahler in der EU verlieren. Und das würde auch durch Deutschland und seine Steuerzahler zu kompensieren sein, falls sich der EU-Haushalt nicht insgesamt verkleinern soll. Es sind rund 2,4 Mrd. Euro, die dann neu verteilt werden müssen. Für Touristen allerdings könnte die Reise nach Großbritannien vielleicht sogar günstiger werden, da alle Experten für den Fall eines Brexit eine spürbare Abwertung des englischen Pfunds gegenüber dem Euro erwarten. Vor allem aber wird diese große Idee einer Friedens- und Wirtschaftsunion die mit der EU verfolgt wird, durch einen Brexit empfindlich geschwächt. Das große Ziel, einen einheitlichen Wirtschaftsraum zu schaffen, der weltweit als Verhandlungspartner gesehen wird und als ein großer Markt dem amerikanischen und dem asiatischen Markt gegenübersteht. Die Schwächung dieser Idee würde wohl jede und jeder von uns mindestens mittelbar zu spüren bekommen.