Ein umgerissener Bauzaun liegt nach der Montagsdemo am 20. Juni 2011 vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Foto: dpa

Der Angeklagte beging eine Dummheit – so sieht ein Stuttgarter Amtsrichter jene Episode des Abends vor zwei Jahren, an dem Stuttgart-21-Gegner nach einer Montagsdemonstration einen Zivilpolizist verfolgten. Für den Versuch, ihm die Pistole wegzunehmen, erhielt der Mann sechs Monate Haft zur Bewährung.

Stuttgart - Ein Mann mit kahlgeschorenem Haupt in schwarzer Lederjacke wälzt sich mit einem anderen am Boden, rappelt sich auf, kann weglaufen und rennt in einen Pulk Menschen. Sätze wie „Das ist ein Bulle“ oder „Nehmt ihm die Waffe weg“ sind zu hören, ehe Kollegen und andere Demonstranten den Mann in Sicherheit bringen. Die Szenen waren vor gut zwei Jahren in den Fernsehnachrichten zu sehen. Noch heute gibt es sie auf dem Internet-Portal Youtube.

Es ist der 20. Juni 2011. Eine Demonstration gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 läuft aus dem Ruder. Ein Teil der Demonstranten reißt am Südflügel des Hauptbahnhofs einen Bauzaun ein und stürmt das Gelände der künftigen Grundwasseraufbereitungsanlage. Sie beschädigen Material und Maschinen. Die Bahn beziffert den Schaden später auf rund 100 000 Euro. Mittendrin im Geschehen: Paul S. – zumindest zu jenem Zeitpunkt, als S-21-Gegner einen bewaffneten Polizeibeamten in Zivil verfolgen.

Als es zum Tumult kommt, befindet sich auch S. in dem Pulk und greift nach der Waffe des Polizisten. Ob nur er oder auch andere, ob nur einmal, zweimal oder dreimal, sind nur einige der Fragen, die sich nach gut zwei Jahren kaum mehr eindeutig klären lassen.

Nur der Verteidiger spricht

Am Montag ist S. am Stuttgarter Amtsgericht des versuchten schweren Raubs und des versuchten unerlaubten Waffenbesitzes angeklagt. Der Vorwurf wiegt schwer: Ist er schuldig, muss er ins Gefängnis. Das hat dem unscheinbar wirkenden Angeklagten offenbar schwer zugesetzt. Weil ein falsches Wort schwerwiegende Folgen haben kann, spricht nur sein Verteidiger, Martin Stirnweiss. Lange Grundsatzerklärungen zum S-21-Widerstand, wie ihn Angeklagte in anderen Verfahren vorgetragen haben, bleiben daher aus. Langwierig gerät dafür die Vernehmung der Zeugen, was daran liegt, dass die Situation an jenem Montag im Juni 2011 unübersichtlich war und auch die Videos manches offen lassen. Unstrittig ist, dass S. unmittelbar an dem Zivilfahnder dran war.

Der gejagte Beamte kann sich nicht erinnern, S. wahrgenommen zu haben. „Ich hatte zum Schutz der Waffe meine Hand auf dem Holster“, berichtet er dem Gericht. Jemand habe seinen Finger gebogen und ihm die Dienstwaffe abnehmen wollen. Viel konkreter wird er nicht, Schläge von Demonstranten, die Verfolgung – das habe ihn panisch werden lassen. Das Trauma wirke manchmal heute noch nach, so der Beamte.

„Nach zwei Jahren habe ich nur noch bruchstückhafte Erinnerungen“

Zwei Bereitschaftspolizisten, ebenfalls in zivil, die dem Kollegen zu Hilfe eilten, schildern die Situation ähnlich. Ähnlich heißt: An entscheidenden Stellen variieren die Aussagen – für Rechtsanwalt Stirnweiss eine Steilvorlage. Er fragt eindringlich nach Details. Jener Beamte, der seinen Kollegen seinerzeit noch gewarnt haben will, auf seine Waffe acht zu geben, muss mehrmals passen. „Nach zwei Jahren habe ich nur noch bruchstückhafte Erinnerungen.“

Amtsrichter Stolle greift ein. Schweren Raub – Raub setzt Gewalt voraus, und weil es um eine Waffe geht, handelt es sich um schweren Raub – wird man Paul S. wohl nicht nachweisen können. Stolle bittet den Angeklagten, Verteidiger und Staatsanwalt ins Beratungszimmer. S. gesteht, zweimal nach der Pistole gefasst zu haben. Von der Anklage bleibt der versuchte unerlaubte Waffenbesitz übrig. Der Versuch, ohne Waffenschein und ohne Notlage eine Waffe an sich zu nehmen, ist, egal in welcher Situation, strafbar. Der Verteidiger bescheinigt der Staatsanwaltschaft in seinem Plädoyer, die Anklage habe „die Keule ausgepackt“.

Paul S. wird zu einer sechsmonatigen Haftstrafe zur Bewährung plus 2000 Euro Geldstrafe verurteilt. Richter Stolle fühlt sich beim Gesichtsausdruck des Angeklagten auf dem Video an einen Schüler erinnert: „Der macht auch manchmal Unsinn, ohne zu überlegen, was dann kommt.“