Letzte Großdemo in diesem Jahr: Gangolf Stocker erinnert sich an die Anfänge des Protests.

Stuttgart - Es begann vor Jahren mit einer Handvoll Demonstranten gegen Stuttgart 21. Am Samstag veranstaltet das Aktionsbündnis die letzte Großdemonstration des Jahres und erwartet Tausende Menschen. Nach der Schlichtung ist die Akzeptanz von S21 gewachsen, ob nun auch der Protest abebbt, ist ungewiss.

Die Montagsdemonstrationen gegen Stuttgart 21 starteten im Herbst 2009 in überschaubarem Rahmen. "Beim ersten Mal zogen drei Leute durch die Königstraße, eine vierte Person gesellte sich unterwegs dazu", sagt Gangolf Stocker. Der SÖS-Stadtrat, einer der führenden Köpfe im Aktionsbündnis gegen das Bahnprojekt, erschien erst in der darauffolgenden Woche selbst auf der Protestreihe. Heute, nach 55 Demo-Montagen, ist Stocker trotz schmuddeligem Winterwetter einer unter Tausenden, wenn zum Wochenauftakt auf dem Arnulf-Klett-Platz gegen Tiefbahnhof und Tunnelstrecken demonstriert wird. Im Sommer folgten zudem jeweils mehrere Zehntausende Menschen dem Aufruf des Bündnisses zu zusätzlichen wöchentlichen Großdemonstrationen.

Gangolf Stocker erinnert sich

Was trieb die Menschen ab Jahresmitte massenweise gegen das Milliardenprojekt auf die Straße? "Als die Bahn Ende Juli den Bauzaun aufstellte, wurde manchem klar, dass der Kittel brennt", sagt Matthias von Herrmann, Sprecher der Parkschützer-Initiative. Wer da noch am Bauwillen der Projektpartner zweifelte, den belehrten wenige Tage später die Abrissarbeiten am Nordflügel eines Besseren.

Bauzaun und Bagger erklären aber nur teilweise die Massenproteste, betont Dieter Rucht. "Die Umgangsweise von Politik und Planern mit den Bürgern steigerte Wut und Ohnmachtsgefühl", so der 64-jährige Protestforscher am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung. Dass ein von 61.193 Stuttgartern unterschriebenes Bürgerbegehren vor zwei Jahren abgelehnt wurde und dass nicht alle Projektfakten von Anfang an auf dem Tisch lagen, erklärten Beteiligung und Intensität. Weitere Faktoren hätten den Protest zusätzlich befördert. So definierten viele den Fortschrittsbegriff anders als die Stuttgart-21-Projektpartner. Fortschritt könne auch bedeuten, vertraute Dinge zu bewahren, so der Professor. "Manche Menschen wollen lieber einen langsameren Gang einlegen, als ein paar Minuten schneller in Ulm sein." Aus Berliner Forschersicht sei die breite Protestfront beeindruckend. "In Stuttgart ging das ganze Bürgertum auf die Straße", so Rucht.

"Massive Kritik gab es aber schon beim Grundsatzbeschluss zu Stuttgart 21", erinnert Gangolf Stocker an das Planfeststellungsverfahren Mitte der neunziger Jahre. Ein Videofilm, der im Internet zu sehen ist, bestätigt dies. Er zeigt Szenen von der turbulenten Abschlussveranstaltung im Stuttgarter Rathaus im Rahmen der Bürgerbeteiligung. Redner forderten schon damals einen Bürgerentscheid über das Milliardenprojekt, der bis heute verweigert wird. "Wir durften damals nur über Blumenrabatte mitbestimmen", so Stocker. Das unbefriedigende Ergebnis veranlasste ihn mit anderen zur Gründung der Initiative "Leben in Stuttgart - kein Stuttgart 21". "Wir verteilten viele Flugblätter, um die Bürger über das Vorhaben aufzuklären", sagt er. Die Bauherren des Tiefbahnhofs eröffneten dagegen erst im letzten Jahr ein Kommunikationsbüro als Anlaufstelle für Bürger.

"Der massive Protest wird anhalten"

Als um die Jahrtausendwende Stuttgart 21 wegen Finanzierungsschwierigkeiten zu scheitern drohte, erlahmte auch der Widerstand. "Keiner glaubte damals noch an das Projekt", so Stocker. Mit Unterzeichnung des sogenannten Memorandum of Understanding zwischen den Projektpartnern im Juli 2007 änderte sich dies. In der Folge gründete sich das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, dem heute Grüne, SÖS, Parkschützer und Naturschutzverband BUND, Verkehrsclub Deutschland, das Architekturforum und der Verband Pro Bahn angehören.

Spektakuläre Aktionen, etwa eine Menschenkette aus 8000 Teilnehmern um den Hauptbahnhof, folgten. Die Wirkung blieb bescheiden, das Projekt wurde weiterverfolgt. "Erst wenn die Verantwortlichen fühlen, dass es bedrohlich für sie werden könnte, bewegt sich etwas", sagt Protestforscher Rucht und erklärt damit, warum Bahn-Chef Rüdiger Grube auch die sechswöchige Schlichtung unter Heiner Geißler akzeptierte.

"Der massive Protest wird anhalten"

Relativ schlechte Umfrageergebnisse motivierten aus Forschersicht die SPD dazu, eine Volksbefragung über das Bahnprojekt zu fordern. Zudem spielten die Medien eine extrem wichtige Rolle, um Zustimmung oder Ablehnung zu beeinflussen. "Als im Sommer bundesweit über Bahnprojekt und Protest berichtet wurde, stieg der Druck auf die Befürworter", sagt Stocker.

Wie wird es weitergehen? "Der massive Protest wird anhalten, bis Stuttgart 21 gestoppt ist", glaubt Parkschützer von Herrmann, auch wenn sich Schlichter Geißler für den Weiterbau eines nachgebesserten Tiefbahnhofs ausgesprochen hat. "Ein Abstumpfungsprozess bei den Demonstranten wird einsetzen", sagt dagegen Protestforscher Rucht.

Weitere Prognosen über die Entwicklung wagt der Wissenschaftler nicht. Prinzipiell gehe es beim Disput zwischen Befürwortern und Gegnern um eine Alles-oder-nichts-Entscheidung.