Nur drei von 100 Unternehmen bieten laut einer Studie eine betriebliche Betreuung an. Die Arbeitnehmer sehen Nachholbedarf. Foto: dpa

Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft halten über 80 Prozent der Firmen im Land Familienfreundlichkeit für wichtig. Doch die Realität sieht anders aus: Nur drei Prozent der Firmen im Südwesten bieten eine eigene Kinderbetreuung.

Stuttgart - An den härtesten Moment kann sich Christine Schwaderer gut erinnern. Einmal fragte ihre Mutter sie, wo denn ihre Mama wohne. „Sie hat mich nicht mehr als ihre Tochter erkannt.“ Seit Schwaderers Mutter an Demenz erkrankt ist, beschäftigt sich die Bosch-Mitarbeiterin mit der Frage, wie der Job und pflegebedürftige Angehörige vereinbart werden können. „Familienfreundlichkeit wird oft nur unter dem Aspekt Kinderbetreuung diskutiert“, sagt sie. Bei Bosch hat die IT-Spezialistin deshalb ein Mitarbeiternetzwerk gegründet: „Elder care“ ist der Titel. Bei dem Stuttgarter Technologiekonzern haben Mitarbeiter die Möglichkeit, Pflegezeit zu beantragen – das heißt: Die Beschäftigten können sich bis zu drei Jahre lang um pflegebedürftige Familienmitglieder kümmern.

Insgesamt bieten 30,6 Prozent der Firmen in Baden-Württemberg ihren Mitarbeitern an, sich zur Pflege von Angehörigen eine Auszeit zu nehmen. Das ist ein Ergebnis der Sonderauswertung des „Unternehmensmonitors Familienfreundlichkeit 2013“ für Baden-Württemberg, die das Ministerium für Finanzen und Wirtschaft und die baden-württembergischen Arbeitgeberverbände beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln n Auftrag gegeben haben. Laut der Studie, die den Stuttgarter Nachrichten vorliegt, sind die Firmen in vier Handlungsfeldern aktiv: Flexible Arbeitsorganisation (96 Prozent), Elternzeit und Elternförderung (88,8 Prozent), Kinder- und Angehörigenbetreuung (63,4 Prozent) und Familienservice (17, 8 Prozent).

Die Flexibilisierung von Arbeitszeiten und die Lösung von der Präsenzkultur ist für viele Firmen der wichtigste Schritt in Richtung Familienfreundlichkeit. Darunter fallen Instrumente wie die Vertrauensarbeitszeit: 48, 4 Prozent der Firmen legen ihren Fokus auf die Erledigung bestimmter Aufgaben und nicht darauf, bei welchem Mitarbeiter am längsten Licht brennt. Auch Telearbeit (Homeoffice) fällt in diesen Bereich – und wird von 18,7 Prozent der Unternehmen angewendet. 11,3 Prozent der Firmen geben ihren Mitarbeitern die Möglichkeit, ein Sabbatjahr einzulegen und 10,8 Prozent praktizieren das Modell Jobsharing, bei dem sich mindestens zwei Teilzeit-Mitarbeiter eine Position teilen.

Pflegeplatz oft unbezahlbar

Einen Knackpunkt der Studie liegt hier allerdings in der Frage, wonach sich die flexible Arbeitszeiten richten: 74,7 Prozent der Unternehmen nennen hier betriebliche Belange. Nur 25,3 Prozent richten sich dabei nach den Wünschen der Mitarbeiter.

Im Bereich Kinder- und Angehörigenbetreuung sehen viele Beschäftigte Nachholbedarf. „Dass beispielsweise nur 30 Prozent der Firmen etwas für pflegebedürftige Angehörige tun, reicht angesichts des demografischen Wandels nicht aus“, sagt Christine Schwaderer. Die Menschen seien darauf angewiesen, die Pflege der Eltern und den Job zu vereinbaren: „Viele Menschen können es sich nicht leisten, ihre Eltern in ein Heim zu geben“, sagt sie. „Denn ein Platz im Pflegeheim kostet monatlich 2000 Euro. Viele müssen für beide Elternteile aufkommen .“

Und auch bei der betrieblichen Kinderbetreuung gibt es Luft nach oben: In der Studie sagen nur 3,1 Prozent der Firmen, dass sie über eine eigene betriebliche Kinderbetreuung verfügen. Weitere Unterstützung bei der Kinderbetreuung (etwa finanzielle Hilfe oder einen Tagesmütterservice) bieten 14,4 Prozent der Unternehmen an.

Familienarbeit überwiegend von Frauen geleistet

Insbesondere weibliche Beschäftige fürchten oft einen Karriereknick, wenn sie sich für Familie entscheiden und Elternzeit in Anspruch nehmen. Hier ist das Ergebnis der Studie nicht eindeutig: Zwar geben 84,6 Prozent der Unternehmen an, dass Mitarbeiter mit Familienpflichten die gleichen Entwicklungs- und Aufstiegschancen haben wie ihre Kollegen. Jedoch kehren beispielsweise nur bei 60,7 Prozent der Firmen die Mitarbeiter nach der Elternzeit größtenteils wieder auf ihren alten Arbeitsplatz zurück.

„Männer mit Kindern steigen sicher genau so auf“, sagt Verdi-Landeschefin Leni Breymaier. „Aber dass Familienarbeit eben überwiegend von Frauen geleistet wird, sieht man am Frauenanteil in Führungspositionen.“ Ihre Erfahrung aus der Praxis zeige, dass Teilzeitbeschäftigte nur ihm Ausnahmefall zu Führungskräften aufsteigen.

Nachholbedarf sieht Christine Schwaderer bei kleineren und mittelständischen Unternehmen. Neben Bosch haben sich die großen Firmen wie der Maschinenbauer Trumpf aus Ditzingen oder der Autobauer Daimler Familienfreundlichkeit längst groß auf die Fahnen geschrieben. Schließlich gilt es beim Kampf um die besten Köpfe vor allem in der Kategeorie Work-Life-Balance zu punkten – also bei dem Gleichgewicht zwischen Arbeits- und Freizeit.

Netzwerke gründen und sich selbst helfen

Doch es reicht nicht, Familienfreundlichkeit nur gut zu finden. „Familienfreundlichkeit lebt von konkreten Angeboten“, sagt auch Landeswirtschaftsminister Nils Schmid (SPD). In der Studie geben 81,4 Prozent der Unternehmen an, dass Familienfreundlichkeit für sie wichtig sei. „Das allein bringt den Mitarbeitern jedoch nichts“, sagt Leni Breymaier. „Darunter kann ja jeder verstehen, was er will“, kritisiert sie. „Betriebsfeste, zu denen Kinder mitgebracht werden dürfen, sind ja nett, ändern aber nichts an den Alltagsproblemen.“

Christine Schwaderer will Mitarbeiter ermuntern, auch Netzwerke zu gründen und sich so selbst zu helfen. Von solchen Initiativen können Impulse für konkrete Angebote an die Mitarbeiter ausgehen. Und man kann sich austauschen: Denn in Momenten, in denen Schwaderer von ihrer Mutter nicht mehr erkannt wird, bringt ihr kein familienfreundliches Instrument der Welt etwas. Dann hilft nur eines: darüber reden.