Ein Bällebad wird zur Todesfalle: Szene aus der Inszenierung von „Seymour“ an der Staatstheater-Spielstätte Nord Foto: Staatstheater Stuttgart

Premiere im Nord: Anne Leppers Drama „Seymour“ ist ein bizarres Lehrstück auf verschobene Sichtweisen menschlicher Existenz. Unter der Regie von Henner Kallmeyer gerät es zur kafkaesken Theaterwarnung.

Stuttgart - Aussortiert. Abgeschoben. Weggesperrt in ein Ghetto im Gebirge. Und schon das Bühnenbild – wahllos verstreute Requisiten statt heilsamer Ordnung – lässt die Katastrophe ahnen: Dieser Haufen im Chaos abgesetzter, missratener, von Sehnsucht und Selbstekel geplagter Kinder wird niemals die Projektionen ihrer Eltern einlösen. Sie bleiben, was sie waren in Henner Kallmeyers Inszenierung am Staatstheater Stuttgart: ungeliebt, aussortiert, abgeschoben.

Leo nervt. Hört nicht auf, am Bühnenrand an der Telefonstrippe zu hängen und seine Mutter um Münzgeld anzubetteln. Der Elfjährige kann nicht riskieren, dass der Kontakt abbricht. Denn schon hat Seymour, der schöne, dünne Cousin aus London, sein Bett im Kinderzimmer besetzt. Mit 125 Kilogramm und 1,40 Meter Körpergröße ist Leo ein Irrtum im Lebenswerk seiner Eltern. So wie alle hier, egal, ob sie wie Heidi, Oskar, Max und Sebastian fett oder bulimisch oder ausgeflippt sind. Nur Robert ist etwas normaler, das verlangt seine Rolle als Assistent des Klinikleiters Dr. Bärfuß. Die Kinder sehnen seinen Auftritt herbei wie die Erscheinung eines Heiligen – doch er bleibt flüchtig. Am Ende ist er flüchtend, von der Polizei verfolgt. Dann erlischt auch das omnipräsente Überwachungsauge an der Decke.

Ein Irrsinnsspiel treiben die Studierenden der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart auf der Bühne. Ein Spektakel mit dem Fokus auf einen Ausnahmeort, an dem das Bitterböse des Lebens in einem Brennglas inszeniert ist.

Franziska Gebhardt hat Carmen Witt, Lene Dax, Mark Filatov und Christian Czeremnych in der Kostümabteilung angedickt und mit roten Jogginganzügen uniformiert. Ihre Outfits verlangen Schritte mit Bauchvorlage und tapsige Hüpf-Tänze. Das ist grandios komödiantisch, spiegelt zugleich das Körpergefühl von zwanghaft grotesk Agierenden. Der doppelte Blick beim Publikum ist schnell geweckt: Spaß durch Kuriosität, Lächerlichkeit vermeidend durch das Unverzeihliche der Situation.

Belacht wird das Talent der Schauspieler, geheult werden darf über die Rollen, die sie spielen. Das Drama mit Live-Musik und -Gesang (Sheila Katharina Eckhardt) entwickelt sich ohne moralisches Zeigefingererheben, ohne konkrete Schuldzuweisung. Die seelische Verwahrlosung der Protagonisten durch ihre Verantwortlichen wird in keiner Spielminute unter die Bühnen-Sperrmüllansammlung gekehrt.

Erzählt wird nichts über die Ursachen des Dickseins, des Zu-dünn-Seins, der Hypersensibilität. Verhandelt wird am Beispiel von Kindern: Was macht Menschen anders, wer stellt die Regeln zur Eingliederung in die „Normalität“ auf, nach welchen Kriterien werden Menschen aussortiert? Bangigkeit schleicht sich ein: Denn lauert nicht im Leben eines jeden Kindes, eines jeden Erwachsenen ein Seymour, ein Surrogat?

Mit Verve stürzen sich die Schauspieler in mögliche Antworten. Das infantile Spiel im Bällebad, das im nächsten Moment zur Todesfalle wird, schweißtreibende Partys auf einem aufgetürmten Berg aus Möbeln („Geselligkeit ist gut, sagt Dr. Bärfuß“), ihr sehnsuchtsvolles gegenseitiges Befummeln, die von Selbsthass getränkten Beleidigungen: „Niemals verliebe ich mich in einen, der so dick ist wie du.“ Und über allem wacht das göttliche Auge. Verbissen wandern sie durch eine Nacht im Kunstschnee-Gestöber, eines der Bärfuß-Heilsversprechen für ihre Transformation in die „normale“ Welt. Denn sind sie erst dünn, wird alles gut.

Die dicken Kinder suchen Erklärungen für ihre von außen aufgezwungene Lebensform: „Die Jugendzeit ist doch verschwendet, wenn es immer nur ums Dünnsein geht“, „Dicke Jugendliche will niemand, sagt Dr. Bärfuß, dicke Jugendliche sind die dicken Erwachsenen von morgen“ oder „Kinder können nicht sterben, man stirbt erst als Erwachsener“. Doch Sebastian (Sheila Katharina Eckhardt), die angehimmelte, schlanke, schöne, in Gold und Glitzer und manchmal auch in Engelsweiß gekleidete Zielprojektion, ist schon tot. Der Ort der Handlung auf einem Berg, das Warten der Protagonisten auf den allzeit abwesenden Klinikarzt und die vergebliche Qual der Figuren, die ihnen keine Erlösung bringt, weckt Assoziationen an Thomas Manns „Zauberberg“.

Weitere Vorstellungen: 20. und 21. Oktober, jeweils 20 Uhr.