Ernst-Robert Kothe aus Simmozheim und der jüngste seiner fünf Sprösslinge, Benjamin. Das gerahmte Foto der Kinder entstand vor dem Tod der Mutter. Foto: Kunert Foto: Schwarzwälder-Bote

Ernst-Robert Kothe musste nach dem Tod seiner Ehefrau die fünf Kinder alleine groß ziehen – und fand damit die Aufgabe seines Lebens

Von Axel H. Kunert

Simmozheim. Es war der 3. Oktober 2005. Überall in Deutschland ein Feiertag. Tag der Wiedervereinigung. Für die Familie Kothe aus Simmozheim war es der Tag der großen Katastrophe. Mutter Gabriele, gerade 41 Jahre alt geworden, starb an diesem Tag. Sie hinterließ ihrem Mann Ernst-Robert die Verantwortung für die fünf Kinder zwischen damals drei und 17 Jahren.

"Das war einfach unvorstellbar. Ich glaubte das nicht. Es war wie ein böser Traum. Es zieht dir einfach den Boden unter den Füßen weg. Ein echter Schock." Ernst-Robert Kothe sitzt in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa. Er erzählt von dem schrecklichen Tag sehr nüchtern. Konzentriert. Aber seine Worte öffnen die Abgründe, die er und seine Kinder damals erlebt haben.

Es sei eigentlich ein Routineeingriff im Krankenhaus gewesen. Eine Kleinigkeit. Eine Nichtigkeit. Aber es gab Komplikationen. Seine Frau, die Mutter seiner Kinder, starb einfach. Und keiner merkte es. Sie habe ein Einzelzimmer gehabt. Erst nach einer Viertelstunde wurde sie gefunden. "Hätte sie jemand im Zimmer gehabt... fünf Minuten hätten gereicht, sie zu retten." Aber 15 Minuten!?

Ernst-Robert Kothe ist Ingenieur, arbeitet bei Daimler in der Entwicklungsabteilung. Das Bauteil, für das er dort zuständig ist, versteckt sich hinter den Stoßfängern der Fahrzeuge. Im Falle eines Unfalls muss sich dieses Bauteil intelligent verformen. Die zerstörerische Energie des Crashs auffangen und damit, wenn möglich, das Leben der Insassen retten. In seinem eigenen Leben war Kothe selbst dieses "Bauteil", das die zerstörerische Energie einer Katastrophe auffangen musste. Der einfach funktionieren musste. Von einen Tag auf den anderen. Verantwortung für fünf Kinder, die gerade ihre Mutter verloren hatten. "Ich musste auf einmal so unendlich viele Dinge tun, von denen ich als Mann und Vater überhaupt keine Ahnung hatte."

Kothe irritiert mit seiner sachlichen Erzählweise über etwas, das für andere Menschen unaussprechlich ist. Er ist ein Kopfmensch. Aber er ist, das wird auf den zweiten Blick sehr gut deutlich, trotzdem extrem sensibel. Der Mann trägt seine Emotionen nur nicht offen zur Schau. Er spricht sie aus. Eben in nüchternen Worten. "Eine Obduktion meiner Frau kam nicht in Frage. Das haben mir die Ärzte sehr übel genommen." So blieb ungeklärt, was die tödliche Krise damals ausgelöst hatte. Aber die Frau, die Mutter "zerschnitten" zu wissen – "das ging einfach nicht." Die Trauerarbeit hatte Vorrang.

Wie schafft man es, mit dem Undenkbaren zu leben? "Du tust es einfach", sagt Kothe wieder mit seiner für Außenstehenden fast aufreizenden Nüchternheit. Und unbedingten Ehrlichkeit. Anfangs habe er, der sich daheim nie um irgendetwas kümmerte, sondern alle häuslichen und familiären Aufgaben der Ehefrau überließ, einfach die Regeln und Tagesabläufe seiner verstorbenen Frau übernommen. Gerade im Umgang mit den Kindern. "Das gab viele Konflikte. Heftige Konflikte. Es ging damals manchmal sehr aggressiv zu im Hause Kothe." Es gab keine körperliche Gewalt. Aber es wurde laut. Dinge wurden kaputt geschlagen. Wahrscheinlich um der Wut, die jeder hier auf das Leben hatte, eine Bahn zu brechen.

Jeder andere würde jetzt Weinen ob dieser Verzweiflung. Schon vom Zuhören. Kothe musste und muss funktionieren. Seine Tränen fließen innen. Unter der Oberfläche. Aber sie sind da, sonst hätte er damals für sich und seine Kinder nicht das Ruder herumreißen können.

"Ich merkte irgendwann, das ging so nicht." Und was macht ein Ingenieur, wenn er mit einem Problem nicht weiter kommt? Er wechselt die Strategie – den Lösungsweg. "Ich strich alle Regeln." Die Kinder mussten nicht mehr im Haushalt helfen. "Ich übernahm alle Aufgaben. Ich verlangte nichts mehr von ihnen." Aber er gab alles. Keine Pflichterfüllung mehr. Nur noch Liebe, die die Kinder tragen sollte. So nüchtern Ernst-Robert Kothe in jedem seiner Sätze klingt – als er beschreibt, was damals den Sinneswandel verursachte, stockt einem beim Zuhören der Atem: "Es war der Blick von Benjamin" – dem Jüngsten – "als ich wieder einmal mit im schimpfte, weil er eine der alten Regeln nicht befolgt hatte. Dieser Blick war grausam. Er sagte: Erst ist die Mama weg, und nun mag mich der Papa auch nicht mehr." Vater Kothe brach dieser Blick endgültig das Herz. Und er rettete die Familie, die um einen neuen Weg ins Leben rang.

Dieser Benjamin ist heute zwölf Jahre alt. Bis eben spielte er Fußball in seinem Zimmer. Ja, in seinem Zimmer. Er wird gleich erzählen, wie er das Glas von den LED-Birnen schießen kann. Ärger mit Papa bekommt er deswegen nicht. Keine Regeln. Nur Liebe und Verständnis. Wenn es Regeln gibt, entdecken die Kothe-Kinder sie nach der großen Zäsur in ihrem Leben nun selbst. Nebenan wohnt eine Paar mit einem kleinen Kind. Wenn das schläft, so die Absprache, die Benjamin mit ihnen getroffen hat, spielt er in seinem Zimmer nicht Fußball. Das funktioniert. "Wir haben hier eine tolle Nachbarschaft", ergänzt Vater Kothe. "Wirklich abartig nette Nachbarn."

Aber das wirklich Berührende, was gerade passiert ist, war, dass Benjamin genau in dem Moment sein Fußballtraining beendete und herunter ins Wohnzimmer kam, als sein Vater über ihn sprach. Das mag Zufall gewesen sein. Aber irgendwie weiß man, dass es das nicht war. Da ist ein besonderes Band zwischen Vater und Sohn, das aus dem gemeinsam Erlebten und Durchstandenen gewachsen ist.

Was auch immer Ernst-Robert Kothe damals an diesem 3. Oktober 2005 verlor – die Ehefrau, die Geliebte, die Verbündete, die Mutter seiner Kinder, aber auch seine eigene Freiheit, sein vielleicht eigenes Leben – gewonnen hat er die Liebe seiner Kinder. Benjamin setzt sich jetzt neben seinen Vater aufs Sofa, kuschelt sich wie beiläufig an seinen Fels in der Brandung an. In den Augen von Vater Kothe geht dabei die Sonne auf. "Es hat zwei, drei Jahre gedauert, dann habe ich gemerkt, dass es hier bei uns mit der neuen Situation ganz gut klappt." Er sei heute, soweit es eben geht, Vater und Mutter für seine Kinder. "Und es bringt mittlerweile wirklich Spaß." Früher wäre er nie auf den Gedanken gekommen, mit den Kindern zum Spielplatz zu gehen, ihnen von der Parkbank einfach beim Spielen zuzusehen. "Und eine Stunde in der Sonne zu sitzen und es einfach zu genießen."

Keine Frage – fünf Kinder alleine groß zu ziehen, sei eine Herausforderung, die nur mit eiserner Disziplin zu schaffen gewesen sei. Fast jede Minute des Lebens ist verplant. Vom Unterhemdenbügeln (sonntags von 6 bis 8 Uhr) bis zum Vokabeln lernen. "Fernsehen sehe ich so gut wie gar nicht. Keine Zeit."

Aber mit einer sehr feinen Ironie, die aus der übergroßen Trauer und der noch größeren Wut am Anfang des Weges etwas Neues, Schönes im Leben von ihm und seinen fünf Kinder hat entstehen lassen, kommentiert Ernst-Robert Kothe diese Herausforderung nun mit den Worten: "Das alles hat ganz sicher nicht den Falschen getroffen." Wenn es einen Gott gebe, dann habe der schon sehr gut erkannt, wem er diese Bürde habe auferlegen können.

Doch wo bleibt Vater Kothe, wenn irgendwann Benjamin und die anderen drei Söhne Christian (24), Michael (22), Andreas (16) ganz und gar ihre eigenen Wege gehen? Die große Tochter Karin (26) hat vor einem Monat geheiratet. Weihnachten werden sie alle sie wohl besuchen – weil daheim an diesem Tag kein guter Ort ist. Ernst-Robert Kothe wird nachdenklich und wieder entwaffnend ehrlich. "Ist das dann die Zeit, sich das Leben zu nehmen!?", fragt er in seiner radikalen, offenen Art. Aber man muss bei einem Mann wie ihm, der das Leben und seine Kinder so offensichtlich liebt, sicher keine Angst haben. Dieser Mann liest Ephraim Kishon. Kompromisslose Ironie eben. Auch wenn er, wie er sagt, (noch) keine Lust auf Enkelkinder habe – glauben muss man ihm das nicht. Und dass der Kreis Calw für seinen Bereich Frühe Hilfen aktuell männliche Familienpaten sucht, und Kothe sich das längst notiert hat, lässt vermuten, dass dem "Vatermutter" Kothe seine so aus ehrlichem Herzen geliebten Aufgaben ein herrlich erfülltes Leben lang nicht ausgehen werden.