Unangenehme Nähe, starrende Blicke – die Schwelle zur Belästigung ist individuell. Foto: Ikon Images/ F1online

Sie kommt öfter vor, als man denkt. Was Frauen als Belästigung empfinden, ist sehr persönlich. Aber die meisten Fälle werden nicht gemeldet.

Jede zweite Frau hat schon sexuelle Anspielungen, aufdringliche Blicke oder Nachpfeifen an ihrer Arbeitsstelle erlebt, sagt die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders. Der Prototyp eines männlichen Belästigers ist Führungskraft, 40 bis 60 Jahre alt und verheiratet. Das klassische Opfer sexueller Übergriffe hingegen ist eine junge Frau zwischen 20 und 30 Jahren und finanziell abhängig von ihrem Arbeitgeber. Ledige Einwanderinnen sind laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums besonders gefährdet. In wenigen Fällen ist die Belästigte eine Führungskraft.

'Ein solcher Übergriff diskriminiert, demütigt und demonstriert männliche Macht', erläutert Psychologin Heera Kosian von der Coachingakademie Roots & Wings and Friends. Bei einem metallverarbeitenden Mittelständler im Landkreis Göppingen trieb über Monate hinweg ein Belästiger sein Unwesen. Als einziger Mann in der ausschließlich mit Frauen besetzen Nachtschicht machte sich der 50-Jährige an seine Kolleginnen heran. Obwohl die leidenden Mitarbeiterinnen in der Mehrzahl waren, wussten lange Zeit weder Vorarbeiter noch Werkleiter des Produktionsbetriebes von den Vorfällen. 'Das ist typisch weibliches Verhalten', sagt Expertin Kosian. Frauen würden sich leider eher auf die Seite des Täters schlagen statt einzugreifen. 'Ein Mechanismus, den man mit gezieltem Coaching umlernt', ist sich die Trainerin sicher.

Belästigungen müssen öffentlich gemacht werden

Als die Chefs des 1500 Mitarbeiter starken Betriebes von den Vorfällen erfuhren, kündigten sie dem Mann fristlos. Einen Tag später war der Angestellte weg. Der konsequente Geschäftsführer holte sich anschließend einen externen Coach, der sowohl Führungskräfte sensibilisierte, als auch Frauen dazu ermutigte, solches Mobbing zu melden. So nahm etwa ein Mann in angeleiteten Rollenspielen die Position der Belästigten ein und konnte sich besser in verschiedene Arten des sexuellen Übergriffs einfühlen. 'Männer müssen auch mal hören, was Frauen alles als sexuelle Belästigung empfinden. Das fängt nämlich schon bei aufdringlichen Blicken an', erläutert Trainerin Kosian. Problematisch sei vor allem, so Lüders, die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle, dass die meisten Fälle nicht gemeldet werden; wenige Anklagen landen vor Gericht. 'Viele Frauen trauen sich nicht, ihren Vorgesetzten anzusprechen, wenn sie belästigt werden', sagt die Starnberger Pädagogin Kosian. Das liegt daran, dass solche Vorfälle schwer zu beweisen sind, denn sie geschehen meist unter vier Augen. Dazu kommt, dass jede Frau eine individuelle Schwelle hat, wann sie Sprüche als belästigend empfindet. Die Therapeutin mit eigener Praxis rät, Belästigungen öffentlich zu machen.

Mit einem lauten 'Nehmen Sie Ihre Finger da weg' etwa weist die Frau ihren Belästiger in seine Schranken. Für spätere Beweisführung hilft ein Tagebuch, in dem Tag, Art und Uhrzeit der Vorfälle genau dokumentiert sind. Falsches Schamgefühl und der Wunsch, sich zurückzuziehen, hinderten Frauen ebenfalls daran, sich zu beschweren. 'Oft kennen junge Frauen das Gefühl von Scham und Rückzug bereits aus ihrer Kindheit; etwa wenn sie dominante Eltern hatten', weiß die Trainerin. Dann passiere es, dass Opfer den Vorfall nicht oder erst sehr spät als sexuelle Belästigung interpretieren. 'Dauern die Eingriffe in die Intimsphäre an, kommt es zu weitreichenden körperlichen und psychischen Problemen', weiß die 48-Jährige. Genannt seien hier: Leistungsabfall, Angststörungen, Schlafstörungen, Essstörungen, Beziehungskonflikte und letztlich Arbeitsunfähigkeit. Bei der Hälfte aller Belästigungsfälle im Job bleibt es laut Umfrage des Bundesfamilienministeriums bei Anspielungen via E-Mail oder Brief, Anstarren auf dem Gang oder dem Suchen unangenehmer körperlicher Nähe.

Sexuelle Belästigung ist ein Fall für die Polizei. Der Arbeitgeber ist per Gesetz dazu verpflichtet, seine Angestellten vor solchen Übergriffen zu schützen. Dazu kann er zu verschiedenen Mitteln greifen: Abmahnungen, Versetzungen bis hin zur fristlosen Kündigung. 'Wichtig ist, dass er sich hinter die Betroffenen stellt und das Thema ernst nimmt', weiß Kosian.