Ein Rollstuhlfahrer bedient mit einer Mundsteuerung den Service-Roboter Marvin. Foto: dpa

Die Entwicklung von Robotern, die im Haushalt zur Hand gehen, schreitet voran – das birgt auch Risiken, warnen Experten.

Stuttgart/Bonn - Marvin steht zu Diensten. Das sagt er nicht nur mit seiner männlich sonoren Stimme. Er stellt es auch gleich unter Beweis: Die Wasserflasche aus dem Regal holen? Kein Problem. Doch nur wohin damit? Die Bewegungen geraten ins Stocken. „Platz zum Abstellen gesucht“, sagt er und scannt die Platte ab, bevor er die Flasche vorsichtig auf den Tisch stellt.

Wer den Service-Roboter Marvin in Aktion erlebt – wie jüngst beim Forschungstag der Baden-Württemberg-Stiftung in Stuttgart –, merkt: Auch wenn Marvin überaus hilfsbereit ist, so hat er mit einem humanoiden Roboter in menschlicher Gestalt nur wenig gemein. Sein Äußeres ähnelt einer metallenen Stele auf einer mobilen Plattform, ausgerüstet mit Greifarm und Tabletcomputer. Mit seinen 1,70 Meter ist er so groß wie ein durchschnittlicher Erwachsener, aber mit seinen 150 Kilo etwa doppelt so schwer. Und noch etwas fällt auf: Marvin braucht Zeit. Seine Bewegungen sind langsam, vorsichtig tastet er sich im Raum voran, berechnet jeden Gegenstand, der in seiner Nähe steht – ob Mensch oder Möbel –, um nirgendwo dagegenzufahren. Bei Marvin geht Präzision vor Schnelligkeit.

Für jede Hilfe dankbar

Doch derjenige, dem der Service-Roboter zur Hand geht, ist für jede Hilfe dankbar. Denn Marvin ist insbesondere für Menschen gedacht, die sich ebenfalls nicht so frei und rasch bewegen können. Zu Testzwecken war er schon im Körperbehindertenzentrum Oberschwaben in Weingarten im Einsatz. Dort ließ er sich per Joystick oder Handy bedienen, einem vollständig gelähmten Patienten gehorchte er gar per Mundsteuerung.

Im Institut für Künstliche Intelligenz der Hochschule Weingarten-Ravensburg, wo der Service-Roboter entwickelt wurde, ist Marvin nicht das einzige Helferlein, das verspricht, irgendwann den Alltag von körperbehinderten Menschen zu erleichtern. Es gibt auch noch Rabe, den intelligenten Rollator, oder Kate, die ältere Schwester von Marvin. Sie alle sollen das Zeitalter der teilautomatisierten Pflege einleiten. Seit nahezu vier Jahren arbeiten die Forscher an Marvin, bringen ihm den Unterschied zwischen Wasser- und Colaflaschen bei, und sagen ihm, wie man diese öffnet und den Inhalt in ein Glas kippt. Sie zeigen ihm, wie Dinge aus dem Regal geholt oder vom Boden aufgehoben und wieder auf den Tisch gestellt werden. „Eben solche Dinge, die für Menschen mit Beeinträchtigung anstrengende und ungeliebte Aufgaben sind“, sagt Benjamin Stähle, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hochschule und – wenn man so will – der persönliche Betreuer von Marvin.

Von Marvin begeistert

Zumindest im Körperbehindertenzentrum Oberschwaben waren die Tester von Marvin begeistert, so Stähle. „Sie fühlten sich ein Stück mehr selbstständig.“ Damit entsprechen die Probanden durchaus dem Bundesdurchschnitt: Nach einer Forsa-Umfrage von 2016 würden rund 83 Prozent der Deutschen auf technische Hilfsmittel zurückgreifen, wenn sie dadurch im Alter länger zu Hause wohnen bleiben könnten und nicht ins Pflegeheim müssten.

Kein Wunder also, dass das Bundesministerium für Forschung eifrig dabei ist, solche Mensch-Roboter-Interaktionen großzügig zu fördern. Bieten Helfer wie Marvin doch auch die Chance, dem wachsenden Pflegenotstand entgegenzuwirken. „Es wird immer wahrscheinlicher, mit entsprechender Technik die Probleme anzugehen und mindestens kompensierend weiter zu helfen“, sagt daher auch Rudi Beer, Forschungsleiter der Baden-Württemberg-Stiftung, die das Projekt Marvin mit rund 350 000 Euro unterstützt hat. „Pflege bedeutet nicht nur waschen, Essen anreichen und ins Bett legen“, sagt er. Ältere Menschen brauchen auch Ansprache und Anreize, um sowohl geistig als auch motorisch fit zu bleiben. „Bevor man in diesem Bereich gar nichts tut, könnten Roboter da eine sinnvolle Ergänzung sein“, sagt Beer.

Hilfe bei Sprachstörungen

So gibt es schon jetzt sogenannte Kognitionsassistenzroboter, die Demenzkranke oder Schlaganfallpatienten mit Sprachstörungen dabei helfen, besser mit ihrem Umfeld zu kommunizieren. Andere Forscher arbeiten wiederum an sogenannten Manipulationsassistenzrobotern. Damit sind unter anderem Exoskelette gemeint, die Gelähmten wieder auf die Beine helfen. Am Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) wiederum arbeitet man derzeit an einem Mobilitätsassistenz namens Care-O-Bot: ein steuerbarer Rollator mit Greifarm, der Älteren zur Hand gehen soll, wenn ihnen etwas heruntergefallen ist.

Derzeit unterstützt die Baden-Württemberg-Stiftung ein Forschungsprojekt der Uni Heidelberg und des Karlsruher Instituts für Technologie, bei dem ein Computerprogramm Demenzkranke zum Singen, Spielen oder Geschichtenlesen animieren soll. „Das System spricht dabei sein menschliches Gegenüber direkt an“, sagt Rudi Beer. Noch handelt es sich hierbei um einen Prototyp, aber „eventuell könnten solche Projekte bald in Heimen zum Einsatz kommen“.

Menschenwürdige Roboter-Pflege?

An Visionen für das, was in Zukunft technisch machbar sein wird, mangelt es nicht. Doch wie weit darf die Automatisierung in der Pflege gehen? So vermisst die Bonner Ethikexpertin Anne Maria Goertz bislang eine breite Auseinandersetzung darüber, wie weit Roboter in unserem Alltag überhaupt ein wünschenswertes Szenario sind. Sind Maschinen im Einsatz, stellt sich die Frage nach menschenwürdiger Pflege, sagte Goertz anlässlich des Kongresses „Medizin 4.0“ der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung. „Für viele Aufgaben in der Pflege bedarf es Geduld, Taktgefühl und Verständnis für Scham und die Würde des Menschen.“ Dagegen bringe der verstärkte Einsatz von Pflegerobotern die Gefahr, dass Pflegebedürftige noch weniger kommunizieren und noch seltener von Menschen berührt werden.

In der Stuttgarter Liederhalle gibt Marvin Freiwilligen seine Klammerhand. So fest sie nach Flaschen und Gläsern greifen kann, so sacht umschließt sie menschliche Finger. „Der Sensor macht es möglich“, sagt Benjamin Stähle. Ob die Berührung eines Roboters bald alltäglicher ist als die einer Pflegekraft? Stähle kennt diese Befürchtung. „Letztlich muss sich jeder die Frage stellen – gerade wir als Entwickler –, welche Form von Technik einen Beitrag zum guten Leben liefert und welche eher dazu beiträgt, dass Technik die Zwischenmenschlichkeit stört.“