Helga Meyer (links) mit Gertrud Fichter sowie den Töchtern Gisela und Ursula. Foto: Privat

Bewegende Erinnerungen einer Westfälin, die im Krieg bei Gasteltern in Tennenbronn überlebt hat.

Schramberg-Tennenbronn - Die 78-jährige Helga Meyer aus Rheda-Wiedenbrück in Ostwestfalen erzählte uns, "bevor es zu spät ist", von der Zeit, als sie bei Gasteltern in Tennenbronn gelebt hat. Voller Dankbarkeit erinnert sie sich an das Leben bei Familie Fichter:

"Mein Geburtsjahrgang wird 2013 80 Jahre alt. Viele von uns leben nur noch, weil sie bei Gasteltern dem Bombenhagel des zweiten Weltkriegs entkamen. Ich gehörte zu den vielen Kindern, die im Jahr 1943 mit der Kinderlandverschickung nach Tennenbronn kamen und von netten Gasteltern aufgenommen wurden. Ich will danke sagen, nach fast 70 Jahren, an die Nachkommen dieser Familien, die sicher noch aus Erzählungen von uns wissen.

Fahrt in eine ungewisse Zukunft

In der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 wurde die Schutzmauer der Möhnetalsperre im Sauerland von englischen Jagdfliegern torpediert. Für viele Menschen in dieser Region war das eine Katastrophe. Aus der gesprengten Sperrmauer ergoss sich das Wasser bis nach Schwerte, am Rande des Ruhrgebiets.

Kurz darauf starteten wir Kinder von Dortmund aus die Fahrt in eine ungewisse, aber gute Zukunft. Wegen bombardierter Gleisen gab es eine Änderung der Strecke, die uns an Schwerte vorbeiführte. Dort sahen wir auf einem Hügel, umgeben von gewaltigen Wassermassen, eine einsame Kuh stehen. Sie wird – im Gegensatz zu unzähligen Menschen – überlebt haben, dachte ich.

Es war eine lange Fahrt mit der Dampflok bis in den Schwarzwald, aber es gab viel zu sehen. Besonders beeindruckend war für uns "Flachländer" die Fahrt mit der Schwarzwaldbahn bis nach St. Georgen. Dort wartete ein Bus von Fritz Fichter aus Tennenbronn auf uns.

Fast täglich gab es Spätzle

Im "Engel" in Tennenbronn versorgte man uns zunächst mit bunter Limonade, dann wurden wir Gasteltern zugeteilt. Zwei Freundinnen waren dabei. Die eine war beim Auerhahn vorgesehen, die andere bei Fichter im Tal. Es gab Empörung und viele Tränen, also wurde umorganisiert und mich traf das Glückslos: Ich durfte zu Fritz und Gertrud Fichter. Diese hatten zwei Töchter, Ursula (5 Jahre) und Gisela (5 Monate). Sie waren wie richtige Schwestern für mich und das war toll, denn ich hatte keine Geschwister. Fichters besaßen ein Unternehmen mit Bussen, einem Taxi und einem Lastwagen, einen Fahrradladen mit Werkstatt sowie eine Tankstelle. Damals hieß es Fichter, später Schwarz, heute Burri. Onkel Fritz war ein fröhlicher, väterlicher Mensch und Tante Gertrud war nicht nur eine gute Mutter, sondern auch eine tüchtige Geschäftsfrau.

Zu der Zeit hatten sie die Elsässerin Luise Ottenwälder bei sich. Wir hatten beide ein eigenes Zimmer und es gab fast täglich die legendären Spätzle, die die Hausfrau immer selbst zubereitete. Ich wurde oft auf Fahrten mitgenommen und habe viel vom Schwarzwald gesehen. Mein Hobby war Heidelbeeren und Pilze sammeln und im Freibad von Tennenbronn lernte ich das Schwimmen. Es war eine tolle Zeit, denn ich durfte zum ersten Mal wirklich Kind sein. Heimweh habe ich nie bekommen.

In der Dorfschule war einiges anders, als ich es gewohnt war. Jungen und Mädchen kamen meist barfuß und als Pausenvesper gab es Schwarzbrot mit Speckstreifen. Aber nicht für mich; ich hatte als einzige ein wunderbares Butterbrot mit Blaubeermarmelade.

In dieser Zeit wurden noch Trachten getragen. Eine für den Alltag, eine andere für die Kirche. Am Häubchen konnte man den Glauben erkennen; rund und flach: evangelisch, etwas spitz: katholisch.

Nach etwa einem Jahr wurde ich sehr krank und musste in Schramberg am Magen operiert werden. Daraufhin kam meine Mutter nach Schramberg. Sie kochte eine Zeit lang für Familie Schmall (Majolika) und lernte später meine Gastfamilie kennen, aber dann ging es leider ab nach Hause. Eines Tages, im Jahr 1944, kam von Familie Schmall ein großes Paket voller Spätzle und als ich 14 Jahre alt war, schickte mir Familie Fichter meine erste Armbanduhr von Junghans, damals mein ganzer Stolz.

Zu unserer großen Überraschung kam an Silvester 1955 ein weiteres großes Paket aus Tennenbronn, das eine Nussbaumschrankuhr mit Stundenschlag, ebenfalls von Junghans, enthielt, die bis heute nicht ein Mal beim Uhrmacher war. Anbei lag ein Gruß von Tante Gertrud: "Sie soll euch immer glückliche Stunden schlagen."

Es gäbe noch viele schöne Erinnerungen zu erzählen, aber es liegt mir besonders am Herzen, den Nachkommen aller lieben Gasteltern, die vor fast 70 Jahren, während der schlimmen Zeit, ein Kind aufgenommen haben, noch einmal Danke zu sagen.