Weltpoliotag: Betroffener berichtet

Kreis Rottweil (ks). "Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie Polio bei mir ausbrach", erzählt Frieder Wolber vom Schöngrund bei Schiltach anlässlich des heute, 28. Oktober, stattfindenden Weltpoliotags.

Es war ein Spätsommertag. Offenbar bricht Kinderlähmung häufig in dieser Jahreszeit aus, so auch bei Wolber im Alter von viereinhalb Jahren. "Das Mittagsessen hatte mir nicht geschmeckt. Ich lief danach den Berg hinab zu meinem Lieblings-Birnbaum, biss in eine Birne. Aber die schmeckte bitter", erinnert sich Wolber. Dann schafft der Bub nicht mehr den Weg zurück zum Haus.

Mutter Ursula Wolber hatte einige Zeit Medizin studiert. Wegen des Kriegs konnte sie ihr Studium nicht abschließen, aber sie kannte Kinderlähmung und beobachtete an diesem Tag ihren Knirps, der krank wirkte, genauer.

Wolber blickt zum Fenster hinaus in die Richtung, wo der Birnbaum stand. Er atmet tief und sagt: "Sofort packte mich meine Mutter in den Kinderwagen und schob mich die viereinhalb Kilometer nach Schiltach zu Doktor Schäufele. Von dort kam ich ins Krankenhaus nach Schramberg. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits Atembeschwerden und konnte nicht mehr sprechen".

Die Mutter vermutete, dass der Vater (er hatte im Krieg ein Bein verloren) bei einem Krankenhausaufenthalt in Freiburg den Polio-Virus eingefangen und mitgebracht hatte. Zum Glück wurde keines der Geschwister angesteckt. Impfungen gab es erst ab den 1960-er Jahren.

Drei Arten Polio-Erkrankungen gibt es. Wolber ist vom A-Typus-Stamm betroffen, daran erkranken 20 Prozent der Poliokranken. Die Überlebenschance liegt bei 50 Prozent.

"Acht Wochen lang war ich in der Isolierstation in Schramberg. Ich erinnere mich an viele Schläuche, vermutlich wurde ich auch künstlich ernährt. Mit Calcium wurde die Ausbreitung gestoppt. Eine Atemlähmung wäre mein Aus gewesen", erzählt der Schiltacher. "Nach acht Wochen durfte ich für einen Tag nach Hause. Das war schlimm, weil ich unglaublich Heimweh gehabt hatte. Dann wurde ich zur Erholung (Reha) nach Freudenstadt gebracht. Ich weiß noch, wie wir mit dem Zug fuhren. Danach habe ich einen Filmriss. Erst Weihnachten durfte ich wieder nach Hause, war aber noch lange nicht gesund".

"Dann hatte ich so etwas wie eine Spontanheilung. Im Frühling bestaunte ich eines Tages eine Weide oben am Berg. Ich konnte mir nicht erklären, wie ich dort hochkommen bin. Plötzlich hatte ich wieder einen Filmriss. Zwei oder drei Stunden blieb ich bei der Weide sitzen, beobachtete die Bienen, genoss ihr Gesumme", schmunzelt Wolber, der von seiner Uroma immer viel über das Leben von Bienen erzählt bekommen hatte.

Erhebliche Defizite hatte er nach dieser "Aufbruchstimmung" im Bewegungsapparat, vor allem an Armen und Händen. Es folgten acht Jahre Einzeltherapie bei Erika Trautwein in Schiltach, die Behandlung sei mit heutiger Ergotherapie vergleichbar. Frieder Wolber wurde Waldarbeiter, wollte sich in der Forstwirtschaft weiterbilden. Doch das Klima und der Regen setzten ihm zu. Nach angestrengtem Schaffen verspürte er als 18-Jähriger Schmerzen in den Sprunggelenken. Aufgrund des entzündlichen Zustandes ging es in eine Umschulung zum Industriekaufmann, und zu Hause wartete die Landwirtschaft im Nebenerwerb.

Auch bei den Schiltacher Flößern war er aktiv. "Nach dem Sturm Lothar bereitete ich im Jahr 2000 mit meinem Sohn Simon und seinen Freunden Holz auf – und ich konnte mithalten", berichtet Wolber stolz. Doch die Anstrengung war dann wohl doch zu groß. Am nächsten Tag hatte er im rechten Fuß kein Gefühl mehr. In der Polio-Fachklinik in Bad Ems bei Koblenz wurde er wieder aufgepäppelt und fühlte sich ab Mitte 2001 "wieder okay".

Auffällig sei bei Polio eine große Müdigkeit, zwischen neun bis elf Stunden Schlaf braucht der inzwischen 70-Jährige. "Vor ein paar Jahren bin ich die fünf Kilometer auf den Fohrenbühl gewandert – und hatte den Weg fast nicht mehr zurückgeschafft. Ich muss akzeptieren, dass das nicht mehr geht". Zum Bienenhaus und zu den Weiden ist der Weg nicht all zu weit.

Regelmäßig tauscht sich Wolber mit anderen Betroffenen aus der Polio-Gruppe im Landkreis Rottweil aus. "Unsere Vorsitzende Margrit Marte ist unglaublich aktiv", lobt Wolber. Jährlich finden vier Veranstaltungen statt. Kinderlähmung ist trotz Impfungen noch längst nicht verschwunden. Weltweit bricht Polio immer wieder aus.