Zwei mit jeweils eigenem Kopf: Lisa und das Kälbchen Michelle. Mittlerweile sind sie ein ganz gutes Gespann. Foto: Schmidtke

Naturkindergarten macht besondere Begegnung möglich: Dreijährige und Kälbchen freunden sich an.

Schiltach/Schenkenzell - Der Waldorfkindergarten Schiltach hat sich zur Naturgruppe umstrukturiert. Die Erlebnisse, die den Kindern in Wald und Flur vergönnt sind, prägen ihre Entwicklung. Ein Beispiel dafür ist Lisa (Name geändert), die im Juni ihren dritten Geburtstag feierte. "Seit gut einem halben Jahr besucht sie unseren Kindergarten, der seit Februar als Naturgruppe auf einem kleinen Bauernhof zuhause ist", erzählte Leiter Helmut Siegl. Natürlich hat die Gruppe immer viel mit Tieren zu tun. Lisa ist unter anderem dabei, auf einem Pony das Reiten zu lernen, was ihr noch Mühe bereitet. Für sein Alter spricht das Mädchen wenig, und was sie sagt, ist für andere schwer verständlich. Deshalb hielt sie sich bisher eher zurück, wenn es um verbale Auseinandersetzungen ging.

Das habe sich schlagartig an einem Montag geändert, freute sich Helmut Siegl und erzählte: "Unsere Gastgeberfamilie Monika und Roland Gutekunst hatten ein sechs Wochen altes Kälbchen mit dem Namen Michelle gekauft. Das Jungtier sieht süß aus und hat ganz natürliche Bedürfnisse:: Fressen, schmusen, springen, pinkeln, stinkern und schlafen." Die meiste Zeit verbringt Michelle mit einer alten Kuh und den Schafen auf der Weide. Morgens und abends bekommt sie Milch aus Milchpulver. Ein echtes Euter wär ihr vermutlich am liebsten. Aber sie lernt, mit Kinderfingern im Mund, aus einem Eimer zu trinken.

Am ersten Tag schaute sich Lisa das alles mit großen Augen aus der Distanz genau an. Dabei wuchs schon eine Beziehung: Lisa berührte Michelle und strahlte dabei. Kälbchen Michelle war nicht abgeneigt, fehlte ihr doch die Zuwendung der Kuhmama. So näherten sich Kind und Kalb langsam, aber sicher an. Lisa verstand, dass Michelle ein Halsband und einen Strick trägt, um geführt zu werden. Das wollte das Mädchen gerne übernehmen, auch wenn sie es kaum aussprechen konnte – seinen Augen war der Wunsch abzulesen. Also bekam Lisa den Strick in die Hand, und damit begann eine besondere Zweierbeziehung: Lisa wollte in die eine, Michelle in die andere Richtung. Kälbchen Michelle als Stärkere ging voran, Lisa hinterher. Und was Michelle entdeckte oder ausprobierte, war für Lisa genau so spannend: auf einen Hügel Gehäckseltes klettern oder unterm Zaun hindurchkriechen. Etwa 30 Minuten kommentierte Lisa mit wenigen Worten die Kälbchenaktionen und ließ sich einfach mitnehmen. Doch dann bekam sie Mut und beschloss, jetzt auch Aktionen zu starten: Lisa zog am Strick in eine Richtung; Michelle reagierte, aber nicht im Sinne von Lisa. Das Mädchen wurde von mal zu mal willensstärker, ging immer wieder auf Michelle zu, redete ihr zu und schob das Jungtier mit der Hand, um dem unwilligen Kälbchen zu vermitteln: "Jetzt komm, ich will, dass du hier hin gehst, los." Und tatsächlich folgte das Kälbchen Lisas Wunsch.

Diese außergewöhnliche Beziehung stehe noch ganz am Anfang zwischen abwägen, zugestehen und nachgeben – eben einer echten Partnerschaft, meint Leiter Helmut Siegl. Wo das hinführt? Das werde sich zeigen. "Bislang lieben sich die beiden, auch wenn sie sich noch nicht in allem verstehen. Aber wo gibt es das schon?", so Siegl. Sie seien "irgendwie ein Team geworden", das Kälbchen und das Mädchen. Künftig wird Lisa ihrer Michelle morgens die Milch geben. Ob es Michelle schmeckt und wie es Lisa dabei geht? "Wir werden es erleben", sagt Helmut Siegl.

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www.waldorfkindergarten-schiltach.de