Stadtschreiber Gawrisch (oben) erzählt, ob in den Reportagen, aus denen er Auszüge liest, oder über die Umstände, die ihn zur Recherche gebracht und dabei begleitet haben. Das Publikum hört dabei nicht nur gerne zu, sondern beteiligt sich am Dialog. Fotos: Schnekenburger Foto: Schwarzwälder-Bote

Stadtschreiber: Zweisprachige Lesung mit Dmitrij Gawrisch mündet auf dem Hegneberg in munteren Dialog

Kunst ist für alle da. Und manchmal geht sie eben dorthin, wo und von wo die Leute nicht unbedingt herkommen wollen. Mit Erfolg, wie die Stadtschreiber-Lesung am Dienstagabend im Treff auf dem Hegneberg zeigt.

Rottweil. Das ist nicht unbedingt Alltag: Jenseits fester Konzepte, außerhalb der Integrations-Formate und nicht angebunden an ein Festival, das solche Begegnungen als großen Programmpunkt stilisiert oder feigenblättelnd instrumentalisieren mag, gibt es einfach eine zweisprachige Stadtschreiberlesung. Ein Experiment?

Ein Angebot. Eines, das angenommen wird. Gut drei Dutzend Zuhörer – alle Plätze sind besetzt – sitzen Dmitrij Gawrisch gegenüber. Dieser hat bereits in seiner Bewerbung nicht nur anklingen lassen, dass der Hegneberg für ihn Thema ist. Er kennt ihn seit seinen Besuchen 2012 in Rottweil, hat ihn auf einem Spaziergang entdeckt und dabei den "vertrauten Sprachklang meiner Kindheit" wiedergefunden. Gawrisch ist in der Ukraine geboren und lebte bis zu seinem zwölften Lebensjahr dort. Dann zog die Familie in die Schweiz. In Bern studierte er Betriebswirtschaft, heute lebt er als Autor in Berlin. Bei seiner offiziellen Einsetzung als Stadtschreiber hat er seine Bewerbung, die eben auch sein Interesse, eher schon in Richtung Versprechen, birgt, wiederholt. Er will "die Rottweil schreibend finden". Eines dieser Rottweil ist der Hegneberg. Er findet ihn an diesem Abend nicht spazierend, nicht schreibend, sondern lesend – und vor allem erzählend.

Der Autor Dmitrij Gawrisch arbeitet journalistisch, als Belletrist und als Dramatiker. Jede Seite will er in Rottweil zeigen. Für den Hegneberg hat er die journalistische auserkoren. In beiden Texten, aus denen er liest, reportiert er aus dem Osten, aus dem Land seiner Kindheit, dort, wo man Ukrainisch spricht und eben auch Russisch. Letzteres versteht knapp die Hälfte der Besucher am Dienstagabend nicht. Dafür verstehen alle Deutsch – bis auf einen. Genadij Makarov heißt er, hat über den Flyer von der Veranstaltung erfahren, im Internet über Gawrisch und den Abend recherchiert. Und er wird später einiges an Information einbringen.

Unterdessen sind sowohl der Stadtschreiber als auch das Stadtschreiber-Stipendium selbst auf Deutsch und Russisch vorgestellt und der Plan für die Lesung verfeinert. Erklärt wird in beiden Sprachen, fliegender Wechsel, manchmal mitten im Satz, doch sehr ausführlich. Gelesen werde der größere Teil auf Deutsch, ein kleinerer Auszug auf Russisch. Und so geht’s auch los, damit die Besucher, in diesem Fall insbesondere die originär deutschsprachigen, einen Eindruck vom Sprachklang erhalten.

Thema ist ein Leprosorium, möglicherweise das letzte in Europa, selbst in der Gemeinde, dort im Süden der Ukraine scharf an der Grenze zu Moldawien, gibt es Leute, die es nicht kennen. Dabei verstecken sich die Patienten nicht, gehen zur Kirche, kaufen ein. Zehn waren es, als Gawrisch im September 2013 zur Recherche dort war, untergebracht in Häuschen, die auf die Ansiedlung der Schwaben zurückgehen, alle über 60 Jahre alt, wie das Team, das sich um sie kümmert. Der Betreuungsschlüssel ist fantastisch: Pflege- und medizinisches Personal, eigener Koch und Friseur, alles in allem rund 4,5:1. Gawrisch liest und erklärt, streut Anekdoten und Details ein. Daran darf man sich gerne beteiligen.

Genadij Makarov erzählt von einem Leprosorium am Ural aus der Sowjetzeit, heute wohl unter kasachischer Verwaltung. 2000 Patienten hätten dort gelebt – streng isoliert, nicht so sehr wegen der Krankheit, sondern, weil Pharmazie und Militär dort zugange waren. Zufällig sei er drauf gestoßen: Auf einem Rundflug hätten ihn Mitpassagiere auf die Einrichtung aufmerksam gemacht, erzählt Makarov, der aus der Ukraine kommt und sich als "Landsmann" von Gawrisch fühlt.

Ihren Dialog führen sie auf Russisch. Überhaupt nehmen einige Besucher auch dieses Angebot an, sich auf Russisch mit dem Literaten unterhalten zu können, obwohl ihr Deutsch sehr gut ist. Es scheint eigentlich gar nicht beabsichtigt, kann von einem Moment auf den nächsten passieren, auch hier mitten im Satz. Und nach der Lesung, wenn der Dialog im Plaudern ausklingt.