87-Jährige kehrt noch einmal in ihre frühere Heimatstadt zurück / Jüdin aus Nazi-Deutschland vertrieben

Von Verena Schickle

Rottweil. Wenn Lore Stone zurückschaut, dann tut sie das nicht mit Verbitterung: im Gegenteil. Dabei liegt hinter ihr ein Leben, in dem es viele schwere Tage gab. Die 87-Jährige ist eine der letzten Überlebenden der früheren jüdischen Gemeinde in Rottweil. "Ich bin eine alte Frau, ich erinnere mich nicht mehr so genau", sagt Lore Stone entschuldigend. 87 ist sie im November geworden. Sie erinnert sich noch an einiges aus ihrer Kindheit. Selbst Rottweil, ihre Heimatstadt, hat sie nie vergessen, obwohl sie sie im Alter von etwa elf Jahren verlassen musste. Einmal wollte sie noch dorthin zurückkehren: Das hat die Deutsch-Amerikanerin nun getan. Mit ihren Kindern Deborah und Michael erkundete sie die Wurzeln ihrer Familie, den jüdischen Rothschilds.

Der Verein Ehemalige Synagoge Rottweil gab den Erinnerungen einen passenden Rahmen: eine Matinee zum Gedenken an den am 6. September 2013 verstorbenen Max Rhodes, den älteren Bruder von Lore Stone. Eigentlich hatte auch er vor seinem Tod noch einmal den Ort seiner Geburt besuchen wollen.

Gisela Roming, die Vorsitzende des Vereins Ehemalige Synagoge und Historikern, zeichnete den Weg der Familie in der Matinee nach. 1806 sei eine jüdische Filialgemeinde von Mühringen in der ältesten Stadt des Landes entstanden. So kamen die Rothschilds nach Rottweil. Mayer Rothschild, ein Arzt, betrieb nicht nur eine Praxis, sondern stieg 1851 auch ins Zeitungsgeschäft ein.

Zuletzt leiten die Brüder Max und Ernst Rothschild, Onkel und Vater von Max und Lore, die Druckerei in dritter Generation. Ende 1933 allerdings verlor die Bürgerzeitung ihren Status als Amtsblatt, im Frühjahr 1934 mussten die Brüder aufgeben: Unter den Nazis war es ihnen als Juden nicht mehr möglich, das Blatt herauszugeben.

Auch Max und Lore bekommen zunehmend Probleme: In der Schule wollte keines der anderen Kinder mehr mit ihnen spielen. Und Lehrer, die sonst zum Dinner (also Abendessen) zu den Rothschild gekommen seien, hätten den Kontakt plötzlich abgebrochen. "Wir haben nicht verstanden als Kinder, was los ist", erzählt die 87-Jährige. Und sie weiß noch, dass sie sich immer in der Predigerkirche versteckt haben, wenn Soldaten durch die Stadt liefen und "Juden raus!" riefen. Einmal hätten andere Kinder sogar Steine auf die Geschwister geworfen, berichtet Gisela Roming. Da habe Vater Ernst befunden: "Es ist genug, wir gehen in die Schweiz."

1937 schickten er und seine Schweizer Frau Lily ihre Sprösslinge nach Basel zu den Großeltern. Ein Jahr später folgte das Ehepaar. Um in der Schweiz ein Unternehmen aufbauen zu dürfen, mussten sie erst eine Geschäftsidee mitbringen.

Dennoch hat Lore Stone vor allem gute Erinnerungen an Rottweil. Etwa an die Fasnet. Auch als Gisela Roming aus den Erinnerungen von Max Rhodes zitiert, er habe von zu Hause bis ins Gymnasium eine Stunde gebraucht, muss Stone lächeln: Ja, weil er immer Essen dabei hatte und unterwegs mit Freunden eine Pause einlegte, um zu vespern und sich zu unterhalten.

Selbst an Muttertage in Rottweil kann sie sich noch erinnern. Um drei Uhr morgens seien die Geschwister da aufgestanden, um Essen und Blumen für ihre Mutter hinzurichten. "Sie musste den ganzen Tag nichts tun – einmal im Jahr", sagt Stone scherzend. Auch ihr älterer Bruder behielt seine Geburtsstadt offenbar in guter Erinnerung, wie aus dessen 2009 veröffentlichten Memoiren ("Keeping your head when others doubt you") hervorgeht.

Der Rottweiler Patrick Mink, der in Kontakt mit Max Rhodes gestanden hatte, erinnert sich in der Matinee an den Verstorbenen: "Wir haben eigentlich überraschend wenig über die Vergangenheit gesprochen." Vielmehr habe sich Rhodes für die Gegenwart seiner alten Heimat interessiert. "Er sprach in einem Rottweiler Dialekt, den ich noch aus meiner Kindheit kannte", erzählt Mink.

Lore Stones Deutsch ist dagegen eher eine Mischung aus Schweizer Einschlag und Englischen Klängen. Doch nur manchmal muss sie kurz nach einem Wort suchen: Noch immer spricht sie ihre Muttersprache fließend. Sohn Michael und Tochter Deborah dagegen sprechen Englisch. Bis zum Alter von vier Jahren habe er Deutsch geredet, erinnert sich der 60-jährige Michael. Dann allerdings, im Kontakt mit anderen amerikanischen Kindern, ging die Sprache seiner Eltern verloren.

Kein Wunder, dass Lore Stone nach Schweiz klingt: Neun Jahre lang lebte ihre Familie bei den Eidgenossen, dann waren sie auch dort nicht mehr willkommen. Einmal mehr mussten die Rothschilds ihre Koffer packen. Wieder reisten die Kinder voraus, wieder folgten die Eltern nach. Lore Stone erinnert sich: Sie seien vorbereitet gewesen, hätten schon in Basel Englisch gelernt.

In den USA mussten die Rhodes, wie sie sich dort nannten, wieder von vorne anfangen. Einmal mehr gelang es ihnen, aus dem Nichts ein Unternehmen aufzubauen: eine Firma, die Schilder herstellt und bis heute existiert, "Elro Signs". Inzwischen agiert das Unternehmen international und hat Niederlassungen in Los Angeles und Atlanta.

Dass Lore Stone, die ihren deutschen Mann in der Schweiz getroffen hatte, sich nie unterkriegen ließ, zeigt auch ihr späterer Lebensweg. Nach 30 Jahren Ehe starb ihr Mann. Da habe sie im Alter von 50 Jahren angefangen, Psychologie zu studieren. Acht Jahre später "wurde ich Dr. Stone", sagt sie.

Diese Brüche, die ganzen Herausforderungen und Widrigkeiten hätten ihrer Familie "Grund gegeben, um zusammenzubleiben". Und trotz allem habe sie das Gefühl, "dass ich in starker Verbindung zu meiner ersten Heimat bleibe". Genau deshalb hat sie vor einer Weile auch den deutschen Pass für sich und ihre beiden Kinder beantragt. "Nun sind wir alle drei wieder stolze Bürger von Rottweil", meint Lore Stone.