Jürgen Mehl. Foto: Schulz

Rekorde: Hängebrücke und Testturm. Rottweil, quo vadis – fragt Stadtrat Jürgen Mehl. Kann die Hängebrücke noch abgelehnt werden?

Rottweil - Die höchste Aussichtsplattform vor der Alb, die modernste JVA im Grünen und nun die längste talüberspannende Fußgängerbrücke – in Rottweil reihen sich gerade Rekord an Rekord. Bevor vergangene Woche am Donnerstag in einer Pressekonferenz die Öffentlichkeit über die geplante Hängebrücke vom Testturm zur Kernstadt informiert wurde, war am Abend zuvor in nicht öffentlicher Sitzung der Gemeinderat ins Bild gesetzt worden. In einer Sitzung, die in ihrer Länge ebenfalls rekordverdächtig war.

SPD-Stadtrat Jürgen Mehl war anschließend etwas ratlos aus dem Rathaus gegangen. Rottweil als neues Mekka der Guinnessbuch-Jünger, wo alle Nase lang Rekorde purzeln? Kann das Projekt jetzt überhaupt noch abgelehnt werden, ohne die Stadt zu blamieren? Seine Gedanken hat er zu Papier gebracht.

"Nachts um 23 Uhr wird der Gemeinderat über die geplante Brückenverbindung vom Thyssenturm zur Kernstadt informiert. Am nächsten Morgen die Pressekonferenz, ein Video erscheint auf YouTube und alle Welt ist erstaunt." Die Nachricht schlägt ein. Angesichts der großen Medienechos, stellt Mehl die Frage in den Raum, welchen Entscheidungsspielraum die Stadträte denn noch haben. "Im SWR Fernsehen heißt es, nun entstehe ein neues Rottweil, nach der römischen Altstadt, der fränkischen Mittelstadt, der spätmittelalterlichen Kernstadt ein viertes Rottweil rund um den Thyssenturm, ein Zentrum für die Region." Und die Stadt müsse die Fenster aufmachen und durchlüften, die Stadt fange jetzt an zu pulsieren.

"Haben wir denn bisher in einem miefigen und pulslosen, einem toten Rottweil gelebt? Müssen wir selbst erweckt werden", fragt Mehl, für den es es in der Kommunalpolitik um das rechte Maß und das richtige Ziel geht. "Soll hier ein spektakuläres Großprojekt nach dem anderen durchgewunken werden"? Wird die Stadt zu einem kleinen "Europapark am oberen Neckar für jährlich 100 000 Event-Touristen, die fortan nicht nur zur Fasnetszeit, sondern nach einem Höhen- und Tiefenrausch über Turm und Tal tagtäglich in die Stadt strömen?"

Für Mehl stellt sich die Frage: "Wähnen wir uns in Rottweil größer als wir sind? Oder sind wir einfach doch Provinz und sollten dazu auch stehen", denn alles habe eben seinen Preis, selbst wenn ein Investor sechs Millionen Euro für die neue Hängebrücke übernimmt. Eingreifende bauliche Maßnahmen, so der SPD-Stadtrat weiter, "zahlen wir alle – sie gehen auf Kosten dessen, was wir an dieser charmanten alten Stadt schätzen und lieben."

Gefährdet sieht er eine von Rottweils letzten idyllischen Ecken mit einmaligem Blick von der Stadtmauer ins grüne Neckartal, der Bockshof. In diesem alten Gottesacker von St. Lorenz liegen "die Gebeine unserer Urahnen aus fast 300 Jahren". Eine dort beginnende Fußgängerbrücke zum Thyssenturm, die zur Verankerung Grundpfeiler tief im Boden (in Reutte sind es 17 Meter) benötigt, ein Touristenrummel am Brückenportal wären das Ende der friedlichen Ruhe. Der Bockshof ist für Mehl deshalb kein geeigneter Endpunkt für die Hängebrücke.

"Unkritischer Fortschrittsglaube macht auch in der ältesten Stadt Baden-Württembergs blind", mahnt Jürgen Mehl. "Schon jetzt, heißt es, blicken wir mit Scheuklappen zum goldenen Kalb auf dem Berner Feld und warten gebannt, bis wir ab 2017 mit dem neuesten Aufzug wie an Rapunzels Haar in nie geahnte wirtschaftliche Höhen gelangen." Dabei habe Rottweil und die Region auch noch viele andere schöne Töchter, die mehr als eine stiefmütterlich empfundene Behandlung und auch Beachtung im städtischen Haushalt verdienten. "Sicherlich streichelt der Medienhype um die neuerdings regelmäßig gelandeten Rottweiler Coups unsere lokalpatriotische Seele. Wichtiger als Rekord-Rottweil sind allerdings maßvolle Ziele. Sie lassen uns die Dinge bewahren, deretwegen wir gerne in dieser Stadt leben und wurzeln", ruft Mehl in Erinnerung.