Vor 100 Jahren: Über die "Kriegs-Chronik des Weltkrieges 1914" und Jochen Brauns Vorfahren

In welch friedlichen Zeiten das heutige Deutschland lebt, wissen diejenigen am besten, durch deren Familien der Krieg einst massive Spuren gezogen hat. Jochen Braun gibt einen Einblick in das Leben einiger seiner Vorfahren.

Rottweil. Auslöser ist die "Kriegs-Chronik des Weltkrieges 1914". Sie lag der Pfälzischen Rundschau bei, einer Publikation, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 40 Jahre lang die größte Zeitung der Pfalz gewesen war. Die "Chronik" hat Brauns Urgroßvater Georg Müller in dreifacher Ausfertigung gesammelt. Wahrscheinlich für jeden seiner drei Söhne eine Ausgabe. Die "Kriegs-Chronik": Sie erschien das erste Mal am Sedanstag 1914, also am 2. September, an dem Feiertag des Deutschen Kaiserreichs, der einst jährlich beinahe so begeistert gefeiert wurde, als wenn Ostern und Weihnachten zusammenfallen würden, und an den Sieg über die Franzosen und Kaiser Napoleon III. bei Sedan anno 1870 erinnerte. Dass sich nach einer 43-jährigen Friedensphase in Mitteleuropa Deutschland in einem Weltkrieg befand, wird bereits auf dem schwarz-weiß-roten Titelblatt (Farben des Kaiserreichs) festgestellt und durch eine doppelseitige Weltkarte ("Deutschland mit seinem Verbündeten Oesterreich-Ungarn, seinen Feinden und den Neutralen") in der ersten Nummer sichtbar gemacht. Der Verantwortliche: Über den für den Inhalt Verantwortlichen findet sich erst in späteren Nummern ein Vermerk: Georg Kropp, in den letzten Exemplaren, die Jochen Braun vorliegen, mit dem Ortsvermerk Heilbronn. Es ist möglich, dass dies derjenige Georg Kropp ist, der 1921 die erste deutsche Bausparkasse in Wüstenrot (bei Heilbronn) gegründet hat, und über den in einem Wikipedia-Eintrag steht: "... arbeitete im Ersten Weltkrieg als Kriegsberichterstatter." Die "Kriegs-Chronik" wurde in Ludwigshafen gedruckt. Der Anspruch: Nicht nur Schlachtenberichte unterhielten die Leser. Anspruch war, "eine umfassende Darstellung aller in Betracht kommenden Verhältnisse" zu geben. Und wie im damaligen Pathos, der allgemeinen Kriegsbegeisterung und im Zeitgeist formuliert: "Wir wollen auf diese Weise unserem deutschen Volk zeigen, daß es um die größten Kulturgüter, um Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit gegen französischen Größenwahn, russische Willkürherrschaft und englischen Krämergeist kämpft." Nicht nur die Zeitgenossen, sondern ebenso ihre Nachkommen sollen "eine gewissenhafte Darstellung aller bei diesem gewaltigen Kampf in Frage kommender Verhältnisse finden". Hin und wieder bot freier Platz auf einzelnen Seiten die Möglichkeit für den Leser, eigene Eintragungen vorzunehmen. Bei der Ausgabe, die Jochen Braun vorliegt, ist jedoch dieser Raum für Notizen freigelassen. Das Œuvre: Es beginnt mit dem Mord am österreichisch-ungarischen Thronfolger in Sarajewo am 28. Juni 1914, letztlich Auslöser des Weltkriegs, und endet in Brauns Sammlung mit der Nummer 148 im Februar 1918 mit den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk zwischen den Mittelmächten und Sowjet-Russland, die am 3. März ihren Abschluss fanden. Eine Fortsetzung in der Nummer 149 wurde in Spalte 7040 angekündigt, liegt Jochen Braun jedoch nicht mehr vor. Der Inhalt: Neben den "Schlachtenberichten" mit erstaunlich vielen Fotos und Zeichnungen gibt es auch Nummern zu gesonderten Themen. Juden: So fällt beim Durchblättern von "Judentum und Krieg" auf, wahrscheinlich im Frühjahr 1916 erschienen, dass die "Niederträchtigkeiten und Gewalttaten der russischen Soldateska an Juden in Galizien, der Bukowina und Russisch-Polen" aufgezeigt werden sollen. Gleichfalls wurde der Aufruf des Verbands der deutschen Juden und des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens bei der Mobilmachung ("Eilet freiwillig zu den Fahnen") erwähnt. Ebenso das Beispiel eines deutsch-jüdischen "Pacifisten", der für "das bedrohte Vaterland in den Kampf" zog – und bald fiel. "Postfaktisch": Damals hieß dieses aktuelle Modewort schlicht und einfach "Kriegslügen". Anhand vieler Beispiele versuchte die "Kriegs-Chronik", die Propaganda-Methoden der Entente-Mächte zu entlarven. Ein anschauliches Beispiel lieferte eine Ausgabe der französischen Publikation "Le Miroir" (auf deutsch: "Der Spiegel"). Dort wurden Bilder der "Reichswollwoche", als in Deutschland im Januar 1915 warme Unterkleidung für die Soldaten gesammelt wurde, mit "anderen" Bildunterzeilen versehen: Deutsche Soldaten hätten in Frankreich und Belgien Häuser organisiert geplündert und die Wollsachen nach Deutschland geschickt ("Ce qu’ils font des lainages volés en France"). Vor 100 Jahren: Im Dezember 1916 war das deutsche Angebot, in Friedensverhandlungen zu treten, Thema. Stimmen der politisch unterschiedlich ausgerichteten Zeitungen wurden auszugsweise wiedergegeben. Gleiches nach der Ablehnung durch Vertreter der Entente am 30. Dezember. Knackpunkt war die jeweils andere Ansicht über die Verantwortung für den Ausbruch des Krieges. Im Januar 1917 endeten langwierige Debatten in Deutschland über die Art des U-Boot-Krieges. Deutschland verkündete schließlich den "ungehemmten U-Boot-Krieg". Die hohen Militärs hatten sich durchgesetzt. Während jedoch die Seeblockade nach dem "Steckrübenwinter" 1916/17 damit nicht beendet werden konnte, hatte der uneingeschränkte U-Boot-Krieg zur Folge, dass die USA Anfang Februar die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abbrachen und schließlich Anfang April auf Seite der Entente in den Krieg eintraten. Brauns Vorfahren: Sie stammten aus Ellerstadt. Zwei der drei Söhne von Jochen Brauns Urgroßvater Georg Müller standen im Ersten Weltkrieg im Feld. Einer (Philipp), dessen "Kriegs-Chronik"-Ausgabe sich seit kurzer Zeit in Rottweil befindet, fiel während seiner Militär-Ausbildung bei einer Fliegereinheit, jedoch nicht in der Luft. Ein anderer (Jakob) eilte bei Kriegsausbruch, kaum 20, als Schneidergeselle aus der Schweiz über die "grüne Grenze" nach Deutschland, um kurze Zeit später an der Westfront zu sterben. In jener Nacht sei nur ein einzelner Schuss gefallen. Der dritte Bruder, Barbier auf der "Queen Elizabeth", tauchte in Amerika unter. Seine Spuren verlieren sich nach 1925, dem Jahr, aus dem noch eine Postkarte von ihm existiert. Brauns Vater: Jochen Brauns Vater Heinz – die Schwester der drei Brüder Müller heiratete einen Braun – erlebte die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs in Kämpfen in Breslau und Wien mit, geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft, kämpfte dort fünf Jahre ums Überleben, kam an die Wolga und musste beim Aufbau von Stalingrad mithelfen. Er habe sein Leben lang gebaut, sagt sein Sohn. Heinz Braun schrieb seine Erinnerungen auf 600 DIN-A4-Seiten auf. "Stalingrad", so Jochen Braun, "war unser fünftes Familienmitglied." Sein Vater, mittlerweile 89 Jahre alt und fit, habe ständig davon gesprochen. Er sei aus der Kirche ausgetreten, er hatte seinen Glauben verloren. Sein Vater, so Jochen Braun, las und liest unheimlich viel. Auch über die Weltreligionen. Er sei "ein extrem suchender Mensch". Und er versuchte, etwas gutzumachen, etwas zur Völkerverständigung beizutragen, sagt seine Schwiegertochter Renate Braun. Immer wieder habe er Studenten aus der Ukraine unterstützt. Die "Kriegs-Chronik": Die Bände hat Jochen Brauns Vater auf dem Speicher eines Cousins gefunden. Sie waren teils voller Ruß und wurden von Heinz Braun Seite für Seite gereinigt. Sie sind in einem erstaunlich gutem Zustand. Das zweite der drei Exemplare befindet sich bei einem Sammler, das dritte im Staatsarchiv Sigmaringen.