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Stadt sichert Bauwerk für 500.000 Euro mit Fangnetz. Keine Suizidfälle, seit Bauzaun steht.

Rottweil - Die Nase ist die einzige, die zwischen den Gittern an der Hochbrücke hinausragt. Mehr geht nicht. Den Augen bleibt nur der Blick in die Ferne. Und selbst wenn der Kopf durch den Bauzaun passen würde, hätte man allenfalls die Möglichkeit, das Gerüst von oben zu sehen.

Wir schreiben das Jahr 2015. 800 Jahre nach dem Bau der Hochbrücke und etwa zwei Jahre nach dem Aufstellen des Bauzauns. Der Werther- Effekt, von dem im Gemeinderat wahrscheinlich die meisten zum ersten Mal gehört hatten, hing wie ein Damoklesschwert nicht nur über den Räten, auch uns ließ er nicht unberührt. Zurück geht der Begriff auf Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werthers", der eine Suizidwelle ausgelöst haben soll.

Die Verbreitung des Romans wurde teilweise verboten, weil das Geschriebene als Empfehlung zum Selbstmord verstanden wurde. Zwar wurde ein Zusammenhang auch angezweifelt, Karl-Heinz Ladwig, Professor für Psychosomatische Medizin in München, jedoch sagte: "Man muss sich noch nicht einmal mit dem Menschen identifizieren können, um seine Tat nachzuahmen." Nach seiner Meinung können Medien, die lediglich über die Methode und den Ort des Suizids berichten, ein kollektives Bewusstsein für den Suizid herausfordern.

Die Hochbrücke ist durch den unansehnlichen Bauzaun von allen Seiten hermetisch abgeriegelt, und soll durch die derzeit noch laufenden Maßnahmen auch in Zukunft jegliche Suizidabsichten verhindern. Was es uns wiederum nach monatelangem Schweigen ermöglichte, über die Bauarbeiten unter der Hochbrücke zu berichteten und auch einen Blick zurückzuwerfen. Seit Kriegsende sprangen etwa 120 Menschen von der Hochbrücke, informierte Björn Claussen, Bauverständiger bei der Stadtverwaltung Rottweil. Im Schnitt pro Jahr zwei Menschen.

"Der Druck ist weg, und sie wollen leben, alle"

Die Auseinandersetzung damit war ihm, als städtischem Baufachmann, neu. Im Arbeitskreis Suizidprävention, in dem auch Psychologen vertreten waren, setzte er sich intensiv mit dem Thema auseinander. Und er hörte Berichte von Menschen, die den Freitod überlebt haben. Menschen, die springen, so weiß er jetzt, bereuen es in dem Moment, in dem sie loslassen. "Der Druck ist weg, und sie wollen leben, alle", zeigt er sich erschüttert.

Jeder Bürger, der einige Jahre in Rottweil wohnt, weiß um die Anziehungskraft der Hochbrücke. Diskutiert werde schon seit 20 Jahren, sagt Claussen, doch reagiert wurde darauf nicht. Erst in den vergangenen Jahren wuchs der Druck auf die Verwaltung, und der Gemeinderat befasste sich mit dem Thema.

Claussen bedauert, dass sich das Prozedere derart in die Länge zog. Erst die Lösung, zu der sich der Gemeinderat nur schwer durchringen konnte, dann die unerwartet lange Bauzeit und zum Finale lieferte das Unternehmen auch noch die falsche Ware. "Ich wünschte mir einen goldenen Oktober, dann einen schneefreien November. Alles klappte und dann das", schüttelt Claussen den Kopf. Von der Lösung selbst zeigt er sich überzeugt. Aktuelle Forschungen zeigten, dass solche Netze den Versuch verhindern und selbstmordgefährdete Personen nicht automatisch an anderer Stelle springen.

Eine Erfahrung, die auch schon in Rottweil beobachtet werden konnte. Seit der Bauzaun die Situation hermetisch abriegelt, gab es keine Vorfälle mehr. Und wie die Polizeidirektion Rottweil bestätigte, auch nicht an anderer Stelle in und um Rottweil. Die Stahlseilkonstruktion, die auf beiden Seiten über die ganze Länge der Hochbrücke angebracht wird, kennt Claussen aus Bern. Laut einer Studie der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) im Auftrag des Bundesamtes für Straßen (Astra) rangierte Bern bis zur Montage auf Platz eins der Brückensuizide. Schon vor 16 Jahren wurden Netze an der Münsterplattform installiert, und seither gab es keinen Versuch mehr.

Derzeit werde darüber nachgedacht, auch die Kirchfeldbrücke in Karlsruhe mit Fangnetzen zu sichern. Ihre traurige Berühmtheit findet auch Erwähnung im Roman von Pascal Mercier "Nachtzug nach Lissabon", der verfilmt wurde. 2009, als sich die Vorfälle und mithin traumatisierte Passanten häuften, wurde ein Drahtgitterzaun als Provisorium angebracht. Auch in San Francisco werde die Installation eines Fangnetzes in Erwägung gezogen, erzählt Claussen. Seit der Eröffnung der Golden Gate Bridge im Jahr 1937 stürzten sich über 1500 Menschen in den Tod.

Dass Menschen zum Spaß oder zur Mutprobe in das unter der Hochbrücke angebrachte Netz springen, hält Claussen für abwegig. Der Aufprall auf den harten Stahl, drei Meter unter der Fahrbahnhöhe sei äußerst schmerzhaft. Auch Verletzungen könnten nicht ausgeschlossen werden. Zudem würde keine Videokamera oder ein sonstiges Überwachungssystem installiert. Wer es versucht, sitzt fest und muss darauf warten, bis ihn die Feuerwehr rettet. "Der Spaß könnte also auch noch teuer werden", warnt er.

Doch teuer wird es erst einmal für die Stadt. Deutlich weniger als in San Francisco, da soll die Konstruktion 75 Millionen Dollar kosten. Aber mit etwa einer halben Million Euro wesentlich teurer als die ursprünglich anvisierten 50.000 Euro. Tragen muss die Stadt die Kosten allein, obwohl das Brückenbauwerk dem Land gehört. Mit 40.000 Euro wird die Maßnahme vom Förderverein Psychisch Kranke Rottweil unterstützt.

Spielt die Witterung mit, sollen die Arbeiten am 27. Januar fortgeführt werden. Spätestens zwei Wochen später kann Claussen die Maßnahmen an der Hochbrücke dann endlich zu den Akten legen.