Rottweil vor 100 Jahren / Spione werden überall gewittert und Nahrungsmittel in "großen Quantitäten" gehortet

Von Andreas Pfannes

Rottweil. An Krieg, nein, an Krieg dachten vor 100 Jahren sicher die wenigsten in Rottweil, als sie Ende Juni/Anfang Juli des Jahres 1914 die "Schwarzwälder Bürgerzeitung", mit dem Untertitel "Rottweiler Anzeiger", aufschlugen und über das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger, Erzherzog Franz-Ferdinand, und seine Gemahlin Sophie in Sarajevo lasen. Sarajevo und Bosnien-Herzegowina gehörten damals als Provinz zur Habsburg-Monarchie, dem großen Vielvölkerstaat im Südosten Europas. "Erfolgreiche" Attentate auf gekrönte und gewählte Häupter waren zwar nicht große Mode, kamen aber relativ häufig vor. So zählt das Blatt am Donnerstag, 2. Juli, fast 20 auf, die zwischen dem 15. April 1865 (Abraham Lincoln, Präsident der USA) und dem 11. Juni 1913 (türkischer Großwesir) ausgeführt wurden.

In Rottweil fängt nach einem relativ ungemütlichen Frühling endlich der Sommer an. Vorwiegend heiter und trocken werde das Wetter, heißt es, jedoch neige es zu Gewitterstörungen. Am 2. Juli wird über "tropische Hitze" gestöhnt. Während es einerseits noch launig heißt: "Im Juli will der Bauer schwitzen, anstatt hinterm Ofen sitzen", wird andererseits in Dunningen die 24-jährige Tochter des Müllers beim Laden eines Heuwagens vom Blitz erschlagen. Aber auch die Veteranen der napoleonischen Feldzüge von 1813/14 werden aufgezählt, und das Verbandsschießen des Schwarzwälder Zimmerschützenverbands wird nicht verschwiegen.

Ihre Majestät, die württembergische Königin, hat Schwenningen am Samstag, 27. Juni, besucht. Im Kaufhaus in Rottweil wird "mittelstarker Verkehr" registriert, die Kirschen kosten je nach Qualität 20 bis 35 Pfennige. Es ist Sommer. Geworben wird, die Uhr eine Stunde vorzustellen – der Zweck: mehr Tageslicht und weniger Ausgaben für künstliche Beleuchtung. Und es wird eine totale Sonnenfinsternis für den 21. August angekündigt.

20 Abiturienten (nur Männer) beenden am königlichen Gymnasium ihre Prüfungen und werden mit ihren Berufswünschen am 1. Juli in der Zeitung aufgeführt (fünf Volksschuldienst, fünf katholische Theologie, drei Medizin, drei Rechts- und Staatswissenschaft und je einer Tierheilkunde, Kaufmann, Bankfach und klassische Philolo-gie). Möglicherweise haben sie dankbar die Werbung registriert, die indischen Haarwuchsbeförderer Marke Pilopinati für den "Stolz des jungen Mannes" anpreist; wer will schließlich nicht bei der Schlussfeier im Liederhallen-Saal Ende Juli mit einem "Es-ist-erreicht-Bart" à la Kaiser Wilhelm II. renommieren? Übrigens: In der Ausgabe vom 1. Juli wird ebenso auf Pulver gegen Damenbärte hingewiesen.

Die Notiz, dass der Kaiser seine traditionelle Nordlandfahrt wegen des Attentats vom 28. Juni verschoben hat und verspätet antritt, erfahren die Leser am Freitag, 10. Juli. Gleichfalls, dass in Rottweil die bürgerlichen Kollegien am 3. Juli getagt haben. Kriegsgefahr? Nein.

Selbst Ende Juli scheint das Leben in Rottweil und Umgebung seinen (fast) gewohnten Gang zu gehen. Der Feuerwehr-Verein beschließt am 27. Juli ein Gartenfest für den Sonntag, 2. August. In Deißlingen hält der Radfahrerverein Radlerlust nach den Erfolgen in Neufra am 23. Juli ein Fest im Saale des "Hohenzollern" ab. Zur Aufführung kommen zwei Preisreigen, vier weitere Reigen und zwei Duettfahrten. In Locherhof beginnt am 24. Juli der lang ersehnte Bau der evangelischen Kirche. Oberndorf wird nach langjähriger Pause von einer türkischen Waffenkommission besucht, die Wohnung im "Hotel zur Post" nimmt. Und in Lauterbach findet das neunte Gauturnfest am 25./26./27. Juli statt.

Doch dann geht es ziemlich schnell. Österreich-Ungarn erklärt Serbien am 28. Juli nach der Ablehnung des Ultimatums den Krieg. Ziel des Attentats war, Österreich-Ungarn zu schwächen und so langfristig einen Anschluss von Bosnien und Herzegowina an Serbien zu erreichen. Sämtliche Truppen auf den Truppenübungsplätzen Münsingen und Heuberg werden in ihre Garnisonen zurückbefördert (30. Juli). Es wird registriert, dass viele Familien Nahrungsmittel, besonders Mehl, in "großen Quantitäten" ins Haus legen. Und ein Poet namens "Ernst Heiter" dichtet in der Schwarzwälder Bürgerzeitung am Samstag, 1. August, "In Kriegsgefahr", hofft jedoch, dass sich der Krieg lokalisiere, dass Europa nicht Schaden nehme.

Ein vergeblicher Versuch. Der Kaiser befiehlt die Mobilmachung. So ist es in einer Extra-Ausgabe der Schwarzwälder Bürgerzeitung vermerkt. Erster Mobilmachungstag ist der 2. August. Die deutschen Truppen marschieren nach den Vorgaben des sogenannten Schlieffen-Plans des "Großen Generalstabs" durch Belgien gegen Frankreich (obwohl die eigentliche Krise und erste Kämpfe auf dem Balkan waren). Bereits am 4. August wird die Pulverfabrik durch französische Flugzeuge bedroht, wie zu lesen ist. Gefahr für die Stadt bestehe jedoch nicht, wird "von kompetenter Seite" versprochen. Selbst wenn die Fabrik im Neckartal in die Luft gehen würde. "Die in Höhe gesprengten Stücke würden größtenteils wieder senkrecht zurückfallen." Also kein Grund, sich zu beunruhigen.

"...daß wir uns fühlen im innersten Mark – einig und stark..."

In Oberndorf ist am 4. August Kanonendonner zu hören – "seit heute früh 3 Uhr bis gegen halb 8 Uhr". Die Kämpfe im Westen haben begonnen. Nach der englischen Kriegserklärung an Deutschland (4. August) werden überall Spione gewittert. So lesen die Rottweiler am 5. August, dass gegen einen von zwei deutschen Reserveoffiziere, die "Umfragen hielten bei Kindern, Zivilisten und Landwehrleuten und sich nicht sofort einwandfrei legitimieren konnten", tätlich vorgegangen wurde. Zu Unrecht, wie sich schließlich herausstellte.

Die Zeiten werden ernster, die Schwarzwälder Bürgerzeitung stellt deshalb (und wegen des Arbeitermangels) das Unterhaltungsblatt respektive die "Familien-Blätter" ab Freitag, 7. August, ein (Nebenbei: Verantwortlich für die Redaktion ist ab dem 6. August Ernst Rothschild und nicht mehr Wilhelm Rothschild). Soldaten werden eingezogen, Arbeitermangel ist überall. Vor allem fehlen Helfer bei der Ernte. Die Jugend wird für Erntearbeiten begeistert, am 7. August deshalb das "Grüne Kreuz Rottweil" gegründet. Sofort schwärmen die Jungen ins Hohenbergerland, ins Bettlinsbad und nach Bühlingen aus. Rottweiler Schülerinnen werden animiert, für die Soldaten Socken zu stricken. Was sie auch tun. Es wird empfohlen, Gemüse anzubauen (Rüben, Karotten, Spinat und Salat). Pferde werden an das Militär verkauft. Und es werden Liebesgaben für verwundete und kranke Soldaten für durchkommende Transporte erbeten.

Der Krieg verändert das tägliche Leben – für fast alle. Die Einnahme von Lüttich (6. August) wird vermeldet, die Gedichte von "Ernst Heiter" werden feuriger und martialischer ("...daß wir uns fühlen im innersten Mark – einig und stark – Treu bis zum Tod! – ..."), an die "ruhmvollen Taten von 1814" wird erinnert. Und in Tübingen erhängte sich am 11. August ein Fremder in einem Gasthaus, der "sich freiwillig melden wollte, aber nicht angenommen werden konnte". (Fortsetzung folgt)